Warme Tage, schlaflose Nächte: Kiew im Ausnahmezustand

Es war ein schöner Frühlingsmorgen in Kiew. Ich war gerade bei der Arbeit angekommen – dem Kultur-Arsenal Mystetskyi. Meine Kollegen saßen in einer kleinen Gruppe unter einem Baum: Sie tranken Kaffee, rauchten und tauschten sich über ihre Erlebnisse der vergangenen Nacht aus. Alle waren unausgeschlafen und wirkten müde. 

In dieser Nacht war Kiew von dutzenden Kamikaze-Drohnen angegriffen worden. Es sind kleine Flugkörper, die aus eigener Kraft große Entfernungen zurücklegen und auf Dächern und Straßen explodieren können. Wir erkennen die Drohnen jedes Mal wieder, weil sie mit einem unverwechselbaren Geräusch über Kiew fliegen. Wir haben uns an die Angst vor den Drohnen gewöhnt. Es ist jedoch unmöglich, die Geräusche zu verdrängen. 

Lichtexplosionen in der Nacht

Es war nicht unsere erste schlaflose Nacht. Seit einigen Wochen wird Kiew von einer Reihe verschiedener Raketen gleichzeitig bombardiert, darunter auch das Prunkstück des russischen Staates, die ballistischen Überschallraketen vom Typ „Kinschal“. Sie gelten als unabschießbar. In jener Nacht wachte meine Kollegin Anna durch einen Luftangriffsalarm auf. Sie lag nun im Halbschlaf in ihrem Bett und überlegte, ob sie sich in den Flur begeben sollte. Eine der Sicherheitshinweise besagt, dass man sich bei einem Luftangriff zwischen zwei festen Wänden ohne Fenster aufhalten sollte.

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Mit schlaftrunkenen Augen spähte Anna auf den schmalen Spalt im Balkonfenster. Der Himmel wurde von dem ungewöhnlichen Licht der Explosionen erhellt. Trotz ihres nur halbwachen Zustands erkannte sie neue Geräusche: Sie erschienen lauter und nicht so dumpf wie sonst zu sein. Irgendetwas Ungewöhnliches geschah. Vielleicht sollte sie lieber in den Korridor gehen. Anna, eine erfahrene Kunstmanagerin, dachte, dass sie sich morgen eine passende Matratze kaufen würde, um auf dem Boden im Flur zu schlafen. 

Am Morgen erfuhren wir alle, dass die Russen Kiew mit sechs „Dagger-Raketen“, das sind russische Hyperschallraketen, bombardiert hatten. Angeblich kann sie kein Raketenabwehrsystem der Welt zerstören. Tatsächlich waren alle sechs Raketen abgeschossen worden. Sie hatten ihren tödlichen, fast mystischen Glanz verloren. 

In der Zwischenzeit suchte Anna nach einer Matratze in der richtigen Größe. Im ersten Online-Shop, den sie fand, gab es eine gute und preiswerte Variante. In der Beschreibung wurde betont, dass sie perfekt in den Flur einer dieser typischen Kiewer Wohnungen passte.

Als wir im Hof des Mystetskyi Arsenal standen, lachten meine Kollegen und ich über die Erzählungen zur Matratze. Die Nacht mit den Drohnen war hart und anstrengend, gemeinsam schöpften wir nun neue Energie. Morgens, wenn das warme Sonnenlicht die Kiewer Straßen erhellt und die Tische der Straßencafés auf einem Teppich aus Kastanienblüten stehen, wirkt alles gleich weniger beängstigend. Ein anderer Freund von mir verglich das Leben in Kiew mit einem Märchen: tagsüber ist Kiew eine schöne, energiegeladene Stadt, in der es nach Straßenkaffee und Stau riecht. Nachts wird sie von schrecklichen Ungeheuern heimgesucht.

Der durchdringende Klang einer Luftschutzsirene warnt uns alle, dass ein böser Drache sein Unwesen treibt. Jeder Tag ist in eine helle und eine dunkle Zeit unterteilt. Die Nacht ist die Zeit der Luftabwehrkräfte, die die Stadt beschützen und deren Hände man sich bis zum Morgen begeben muss.

Diese Dualität des Lebens während des Krieges ist überall zu spüren, jeder von uns kämpft damit. Wir saugen diese nächtlichen Gefühle auf, bis wir am Morgen, schläfrig und müde, einen Kaffee trinken und unseren Erledigungen des Tages nachgehen können. Vielleicht ist dies tatsächlich das Geheimnis der ukrainischen Resilienz: Wie einen Schwamm saugen wir diesen Alptraum in uns auf, um dann mit Kollegen und Freunden darüber zu lachen und sich gemeinsam in den schönen Kiewer Abenden zu verlieren. Und um nie aufzugeben.