Ulli Wegner hat vielen Boxern ihre Träume erfüllt
Ulli Wegner liebt es, Hosenträger zu tragen. Er trägt sie auch an diesem späten Dezembernachmittag. Es sind noch zwei Tage bis Heiligabend. Draußen wird es dunkel.
Wir treffen uns im Max-Schmeling-Gym auf dem Olympiapark-Gelände gleich hinter dem Olympiastadion. Ulli Wegner rollt alte Boxplakate ein, verstaut Boxhandschuhe in Kisten und nimmt sich dennoch die Zeit für ein Interview.
Man muss dazu wissen, dass Interviews mit ihm grundsätzlich ihren eigenen Dreh bekommen. Hans-Ullrich Wegner, den alle Welt nur Ulli nennt, holt gerne aus. So weit, und mitunter so interessant, dass beide Gesprächspartner darüber die eigentliche Frage vergessen.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
An diesem Nachmittag aber kommt eine besondere, ungewohnte Note dazu. Ulli Wegner ist aufgewühlt. Wie immer fallen aus seinem Mund tausende Wörter. Doch zu den Anekdoten von früher mischt sich dieses Mal viel Wehmut. Nur wenige Tage später, zum 31. Dezember 2019, wird das Gym dichtmachen. Der Betreiber, die Boxfirma Sauerland Event, hat kein Geld mehr, weder für das Gym noch für Wegner.
Seit 1996 hat Wegner für Boxstall-Gründer Wilfried Sauerland, 82, zahlreiche Profi-Weltmeister geformt. Von Sven Ottke, Markus Beyer und Marco Huck bis hin zu Arthur Abraham und Cecilia Braekhus, um nur einige zu nennen. Erst in Köln, dann ab 2003 in Berlin. Davor war er jahrelang im Amateurbereich tätig, auch als Bundestrainer. Wenn man so will, dann führte Wegner nach den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta (Silber durch Oktay Urkal, Bronze durch Thomas Ulrich) für Sauerland das weiter, was Henry Maske und Axel Schulz Anfang der Neunzigerjahre auf den Weg gebracht hatten.
Wegner stand bei 103 Profi-WM-Kämpfen in der Ecke
Wegner stand bei 103 Profi-WM-Kämpfen in der Ecke, davon endeten 89 siegreich. Damit ist er neben dem 2014 verstorbenen Fritz Sdunek, der Dariusz Michalczewski und die Klitschko-Brüder bei Promoter Klaus-Peter Kohl jahrelang betreute, Deutschlands herausragendster Boxtrainer.
Und nun, an diesem Vorweihnachtstag, packte er alles ein. Pokale, Ehrenkränze, Sandsäcke. Jetzt alles schlechtzumachen, wäre nicht seine Art, wird er sagen. Dabei bleibe es auch. „Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte. Vor zwanzig Jahren hatte ich ein zweites Mal das Angebot, zu Sauerlands Konkurrenten Kohl zu wechseln. Dieser hatte Ottke für drei Kämpfe zehn Millionen Euro geboten. Dann habe ich Ottke vors Schienbein getreten und gesagt, ich gehe nicht mit. Dann ist auch Ottke geblieben. Er wollte nicht ohne mich. Da haben wir Charakter bewiesen.“
Ein paar Jahre später, im Taumel großer Erfolge, stellte Sauerland Wegner sogar einen Vertrag auf Lebenszeit aus. „Das habe ich schriftlich. Ich habe es zum 65. Geburtstag von Sauerland erhalten. So lange ich die Treppe hoch zum Ring komme, könne ich arbeiten“ erzählt Wegner im Dezember 2019. Und nun das. Wegner ringt mit den Worten, zwischendrin muss er sich immer mal wieder setzen, er hat feuchte Augen. In wenigen Tagen wird er nicht mehr für Sauerland arbeiten. Er wird auch nicht mehr Trainer sein. Eine Ära geht zu Ende.
Als 1971 die New York Times die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg abdruckt, Honecker in der DDR Ulbricht ablöst und Joe Frazier im Fight of the Century Ali besiegt, wird Ulli Wegner Trainer in Gera. 1979 zieht es ihn zum TSC nach Berlin, 1991 übernimmt er den Bundesstützpunkt. Über 150 Medaillen bei internationalen Turnieren haben seine Schützlinge gewonnen. Es folgt seine Blütezeit bei den Profis – bis er 77 ist.
Ob er irgendwann zwischendrin vergessen hat, aufzuhören? Das sei nie ein Thema für ihn gewesen. „Ich fühlte mich der Sache, dem Boxen und meinen Jungs verpflichtet. Ich wollte als Trainer immer etwas bewegen und habe mir das hart erarbeitet, von der Pike auf. Ich vergesse nie, dass ich allein ein Nichts wäre. Man braucht ein gutes Team, eine intakte Familie und starke Konkurrenz.“ Es gehe schließlich darum, „die Träume deiner Sportler zu erfüllen“.
Ulli Wegner ist im Kriegsjahr 1942 in Stettin geboren. An einem Morgen im Januar 1945 werden die wichtigsten Habseligkeiten der Familie auf einen Lastwagen verladen. Die rusische Armee hat die Stadt an der Odermündung zurückerobert, die Wegners flüchten nach Büssow, rund 30 Kilometer westlich von Stettin. Weiter geht es nach Penkun, wo Ulli Wegner seine Kindheit verbringen wird.
Der Fernsehpublikum liebte seine Ansagen in den Ringpausen
„Ich war in der vierten oder fünften Klasse, als wir dann nach Penkun umgezogen sind. Nach der Schule bin ich mit zehn Kühen los. Ich habe mich auf meinen Ochsen draufgesetzt und bin vorneweg“, erzählt er. Sechs Kühe gehörten der Familie, vier waren vom Nachbarn. „Dafür habe ich von ihm zwei Mark die Woche bekommen.“ Ulli Wegner wird nachdenklich. „Ich habe mich jahrelang nicht getraut zu erzählen, dass ich mal sitzengeblieben bin, weil ich lange Zeit Ziegenpeter hatte. Ich habe mich geschämt.“
Wegner holte die 10. Klasse nach, machte eine Ausbildung zum Traktoren- und Landmaschinenschlosser mit Meisterbrief und absolvierte ein Studium zum Diplom-Sportlehrer. „In dieser Zeit habe ich einen unheimlichen Schub bekommen, ich habe gelernt wie verrückt und einen unglaublichen Ehrgeiz entwickelt. Über diesen Weg bin ich dann gewachsen.“
Dass Wegner mindestens so berühmt wurde wie seine Boxer, liegt nicht zuletzt an seinen Sprüchen und seiner Stimme. Das Fernsehpublikum liebte seine Ansagen in den Ringpausen. Und erst diese Stimme, die eher ein heiser gehauchtes Krächzen ist. Unverwechselbar. Da sei nie geplant gewesen, alles intuitiv. „Überall, wo ich hinkomme, sprechen mich Menschen zwischen 30 und 90 darauf an.“
[Mehr guten Sport aus lokaler Sicht finden Sie – wie auch Politik und Kultur – in unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken. Hier kostenlos zu bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Das dürfte auch eine Grund dafür gewesen sein, weshalb er 16 Mal in Folge Boxtrainer des Jahres geworden ist. „Weil es ein Publikumspreis ist, bin ich auch sehr stolz“ erzählt Wegner. „Auch einige meiner Jungs holten solche Titel. Das war mir wichtig. Du darfst nie die Normalität deines Lebens vergessen und vom Herzen und vom Verstand aus mit deinen Fans mitgehen.“
In jenem Dezember 2019 wird für Ulli Wegner mehr als nur ein Lebensabschnitt enden. „Wissen Sie, wann immer ein großer Trainer verabschiedet wird, im Boxen, im Fußball oder sonst wo, habe ich Tränen in den Augen gehabt. Das hat mich immer angefasst. Dann habe ich immer bei mir gedacht: Was, wenn dir das passiert? Da sah ich immer eine große Leere.“
Es ist ruhiger geworden um ihn. Derzeit erholt er sich von einem Oberschenkelhalsbruch. Vor zwei Jahren ist ihm das schon im anderen Bein passiert. „Im Alter muss man es ruhiger angehen lassen“, hatte er beim letzten Telefonat gesagt. An diesem Dienstag wird Ulli Wegner seinen 80. Geburtstag begehen. Im engsten Kreis auf Usedom – und bestimmt mit Hosenträgern.