Vom „Gedenkort Polen“ zum „Deutsch-polnischen Haus“: „Wir nehmen uns Zeit, damit es gut wird“
Wer sich der Komplexität der deutschen Geschichte stellt, läuft Gefahr, von ihr erdrückt zu werden. Doch das Bemühen, sie wieder zu reduzieren und ein Gedenkprojekt auf ein praktikables Maß zu bringen, kann sehr viel Zeit kosten.
Das ist die Kurzfassung der Geschichte, warum es einerseits 84 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen noch immer keinen Gedenkort in Berlin für den Kriegsbeginn und die folgenden Leiden der Nachbarn im Osten gibt. Und andererseits, warum das Projekt nun auf einem guten Weg ist und Chancen hat, vor dem 100. Jahrestag 2039 Gestalt anzunehmen.
Am Dienstag stellten die Verantwortlichen das überarbeitete Konzept für das Projekt im Kanzleramt vor: Claudia Roth, Beauftragte für Kultur und Medien (BKM); Anna Lührmann, Staatsministerin im Auswärtigen Amt (AA); Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas; und Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts (DPI).
Baubeginn? Keine Rede von einem konkreten Datum
Und siehe da: Es hat sich einiges getan abseits der Öffentlichkeit, auch wenn vieles dauert. Es ist noch kein konkretes Datum für den Baubeginn abzusehen, und einige Fragen sind weiterhin offen.
„Wir nehmen uns Zeit, damit es gut wird für die künftigen Generationen“, warb Neumärker um Verständnis. Roth und Lührmann betonten, wie „einzigartig“ das Vorhaben sei, die Beziehungen zweier Nachbarvölker samt ihren Höhen und Tiefen gemeinsam zu erzählen, damit Deutsche und Polen das Geschehene auch mit den Augen des Anderen sehen.
Der Ort wird ein Leuchtturm der deutschen Empathie für Polen, an der es in der Vergangenheit so oft gefehlt hat.
Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts.
Loew sprach emphatisch von einem „Leuchtturm der deutschen Empathie für Polen, an der es in der Vergangenheit so oft gefehlt hat“.
Ein neuer Name: „Deutsch-polnisches Haus“ steht über dem Eckpunktepapier, ergänzt um die drei Funktionen „gedenken, begegnen, verstehen“. Früher war das Projekt als „Gedenkort Polen“ oder „Polen Mahnmal“ bekannt.
Ortswechsel zur Kroll-Oper
Ein Ortswechsel: Als Standort favorisiert das Papier das Gelände der ehemaligen Kroll-Oper gleich südlich vom Kanzleramt. Dort tagten die Abgeordneten nach dem Reichstagsbrand 1933, und dort hörten sie am 1. September 1939 die Rede, in der Adolf Hitler den Angriff auf Polen verkündete. Diese Ortswahl muss allerdings noch mit dem Land Berlin und dem Bundestag abgestimmt werden.
Die zivilgesellschaftliche Initiative um den Stadtplaner Florian Mausbach, die 2017 den Anstoß für einen „Gedenkort“ im Zentrum Berlins gab, hatte zunächst die unbebaute Fläche um die Ruine des Anhalter Bahnhofs vorgeschlagen. Er gehörte zu den Bahnhöfen, von denen Züge in die Vernichtungslager rollten. Zudem liegt gegenüber das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung Versöhnung – woraus sich ein räumlicher Kontext zwischen dem Vernichtungskrieg als Ursache der Vertreibung ergeben hätte.
Über Jahre hatten sich die Befürworter des Gedenkorts am 1. September am Anhalter Bahnhof versammelt, um für einen raschen Bau zu demonstrieren, mehrfach unterstützt vom damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. 2023 treffen sie sich zur Kundgebung samt kostenlosem Open-Air-Konzert mit polnischen Künstlern am Platz der Kroll-Oper, Beginn um 16.30 Uhr.
Die dritte Änderung betrifft die Klärung der Zuständigkeiten bei der Arbeitsteilung. Die politische Federführung ist in der Ampel-Koalition vom AA zur BKM gewechselt. Die inhaltliche Verantwortung liegt bei der Stiftung Denkmal „unter Einbeziehung des DPI“.
Streit zwischen Kultur- und Außenpolitikern
Wer die Vorgeschichte verfolgt hat, könnte beides für problematisch halten. Außenpolitiker und Kulturpolitiker hatten zeitweise hart über das Projekt gestritten. Auch die Experten für das Gedenken, die nun an einem Strang ziehen sollen und wollen, Uwe Neumärker und Peter Oliver Loew, kämpften anfangs nicht auf der gleichen Seite der Barrikade.
Einen speziellen Gedenkort für die polnischen Opfer hatte Ideengeber Florian Mausbach vorgeschlagen. Er fand rasch die Unterstützung des Deutschen Polen-Instituts. Der Vernichtungskrieg im Osten war von ganz anderer Dimension als die Kämpfe im Westen, Norden und Süden. Und er hatte in Polen begonnen.
So argumentierten bald auch viele Außenpolitiker und fügten als weiteres Argument Polens Bedeutung für die Europapolitik hinzu: Polen ist und bleibt für Deutschland neben Frankreich der zentrale europäische Partner.
Nationale oder postnationale Erinnerungskultur
Ein solcher nationaler Ansatz sei doppelt falsch, argumentierten die Gegner. Erstens aus praktischen Gründen: Wenn Polen ein eigenes Mahnmal bekomme, könne man es den Ukrainern, Weißrussen und anderen nicht verwehren. Zweitens müsse man einer „Re-Nationalisierung“ der Geschichtsbilder entgegentreten und zu einer „postnationalen“ Erinnerungskultur in Europa kommen. Ihr Gegenvorschlag: ein Dokumentationszentrum für alle Opfer der Besatzungsherrschaft in ganz Europa.
Das fanden nun wiederum Dritte nicht angemessen. Man könne den Besatzungsalltag in Frankreich, Norwegen, Italien und Griechenland nicht mit dem weit mörderischeren Vorgehen in Polen, Litauen, der Ukraine und Russland vergleichen.
Kein Lager konnte das andere mit seinen Argumenten überzeugen. Es entstand eine politische Blockade im Bundestag. Die aber wurde 2020 auf doppelte Weise durchbrochen. Neumärker und Loew präsentierten einen Kompromissvorschlag: die Verbindung des Polen-Mahnmals mit einem Dokumentationszentrum für alle Opfer des Vernichtungskriegs und der Besatzungsherrschaft in Europa.
Wolfgang Schäuble erzwingt zwei Entscheidungen
Und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble orchestrierte eine zweifache Entscheidung des Parlaments. Am 9. Oktober 2020 beschloss der Bundestag die Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in Europa unter dem Dach der Stiftung Deutsches Historisches Museum.
Am 30. Oktober folgte die Entscheidung für einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung“, der „dem Charakter der deutsch-polnischen Geschichte gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen beitragen“ solle.
Nach zahlreichen Gesprächen mit deutschen und polnischen Experten sowie Vertretern der Opferverbände unter Leitung des früheren deutschen Botschafters in Polen, Rolf Nikel, legte das Auswärtige Amt im September 2021 ein erstes Konzept vor.
Drei Schwerpunkte: gedenken, begegnen, verstehen
Das nun vorgestellte Eckpunktepapier „Deutsch-polnisches Haus“ ist die nächste Etappe, aber noch lange nicht der letzte Schritt auf dem Weg zum Baubeginn. Neumärker, Loew und die Experten, die sie heranziehen, konzentrieren sich auf die weitere Ausarbeitung der drei deutsch-polnischen Hauptaufgaben: das Gedenkzeichen, das Künstler gestalten werden.
Zweitens, die historischen Informationen, die Besuchern helfen sollen, die Besatzungsherrschaft in Polen zu begreifen; dafür müsse man die Traditionen von Polen-Feindschaft und Polen-Begeisterung in Deutschland in früheren Jahrhunderten mit in den Blick nehmen, erläuterte Neumärker.
Dritter Pfeiler sind Räume für Bildung und Begegnung. Diese Arbeit soll bereits in den Jahren beginnen, bevor das „Deutsch-polnische Haus“ steht – in Form einer „Fliegenden Akademie“. Sie soll Bildungsangebote zur gemeinsamen Geschichte an vielen Orten in beiden Ländern machen.
Die europaweite Einbettung können Neumärker und Loew weitgehend dem Deutschen Historischen Museum überlassen. Weniger ist manchmal mehr. Und beschleunigt im Idealfall die Realisierung.