Ukrainisches Kriegstagebuch (130): Die Gegenkultur ist gescheitert

28.4.2023

Einen Schriftsteller auf der Straße treffen? Im Alltag passiert mir das selten. Doch in Leipzig, während der Buchmesse, steigen die Chancen wesentlich. 

Direkt vor dem Hoteleingang stoße ich auf Max Czollek, der auch gerade angekommen ist und gleich weiter muss, da seine erste Veranstaltung bereits in einer Stunde beginnt. Kaum hundert Meter weiter, als ich zur Tramhaltestelle laufe, glaube ich, eine ukrainische Autorin zu erkennen – bis jetzt kannte ich sie nur von Facebook. Ich traue mich nicht, sie anzusprechen, bin mir aber sicher, dass es in den kommenden Tagen noch weitere Gelegenheiten geben wird. 

Future Sound Of Ukraine

In der Tram bin ich mir sicher, dass ich meine Haltestelle nicht verpassen werde, weil die ganzen Cosplayer mit ihren aufwändigen Kostümen und bunten Perücken, die rechts, links und hinter mir sitzen, dort auch aussteigen. Es ist nicht mein erstes Mal bei der Leipziger Buchmesse, es gab eine Zeit, als ich mit meinem Sohn jährlich hierher kam. Er interessierte sich für Comics, Kinderbücher und Roboter, und ich freute mich auf die Gelegenheit, alte Freunde wiederzusehen – zum Beispiel die Münchner Plattenfirma Trikont oder den Verlag Meridian Czernowitz. 

Als Trikont 2016 meine Compilation „Borsh Division – Future Sound Of Ukraine“ herausbrachte, traf ich Serhij Zhadan, der sein neues Buch in deutscher Übersetzung auf der Messe präsentierte, am Stand des Musiklabels; wir hatten ein kurzes, aber herzliches Gespräch mit den beiden Chefs, Achim Bergmann und Eva Mair-Holmes.    

Claudia Roth und Olena Odynoka vom Ukrainien Book Institute unterhalten sich am ukrainischen Stand auf der Leipziger Buchmesse.
Claudia Roth und Olena Odynoka vom Ukrainien Book Institute unterhalten sich am ukrainischen Stand auf der Leipziger Buchmesse.
© dpa/Hendrik Schmidt

Damals habe ich noch keine Bücher geschrieben, und die Leute von Meridian Czernowitz waren die einzigen Ukrainer mit einem eigenen Stand. Heute ist alles anders: Boris ist nicht mehr dabei, ich bin Autor geworden, Trikont ist leider nicht mehr da, und die Ukraine hat einen großen Nationalstand. Da will ich unbedingt hin, mich verschlägt es aber zuerst in die Halle 5. Dort suche ich den Ariella Verlag auf, der im vergangenen Jahr „Richard Wagner und die Klezmerband“ von mir veröffentlichte.

Auf dem Weg dahin fällt mir der Umschlag eines Buches auf, das ich täglich in meinem Regal zuhause sehe: die deutsche Ausgabe von „Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo“ von Mike Johansen, dem großartigen ukrainischen Schriftsteller, der vor hundert Jahren in meiner Heimatstadt Charkiw lebte. Auf Ukrainisch erschien das Buch schon 1932, es hat also fast neunzig Jahre gedauert, bis es in Deutschland beim Secession Verlag herausgekommen ist. 

Mike Johansen wird seinen Roman bei der Messe nicht promoten können, 1937 fiel er der stalinistischen Repressionen zum Opfer und wurde zwei Tage vor seinem 42. Geburtstag erschossen. Wenn er hier wäre, wäre er sicher sehr überrascht, denke ich, als ich an den Ständen vorbeigehe, die mit Plakaten mit Lenins Gesicht geschmückt sind. An einem davon wird ein Sonderangebot zum 1. Mai bekannt gegeben – eine Flasche Wein und das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx für nur zehn Euro. 

Am Stand der „Taz“ sehe ich in der Ferne Max Czolleks funkelnde Basecap, seine Lesung, zu der er zuvor eilte, zieht ein großes Publikum. Es ist richtig voll, sodass ich von meiner Position aus kaum etwas verstehe. Ich ziehe weiter – und gerate wenige Meter weiter in die Präsentation eines Buches über die Gegenkultur in russland. Die Autorin erzählt, sie habe eine Reise nach russland geplant, sich dann aber im Februar 2022 dagegen entschieden. Mit den Protagonisten ihres Buches habe sie sich im Zoom getroffen, erzählt sie. 

Vor der Annexion der Krim, vor dem Beginn des russischen Krieges im Donbass habe ich mich gelegentlich auch für die russische Gegenkultur interessiert. Inzwischen habe ich überhaupt kein Interesse mehr, weil ich nicht an ihre Existenz glaube. Gäbe es sie trotzdem, müsste man eingestehen, dass sie gescheitert ist. Vielleicht erzählt dieses Buch ja genau darüber?