Über Köpfe gehen
„Alles, was wir körperlich erreichen können, übertrifft ein gut trainierter Affe mit Leichtigkeit.“ Das sagt Yaron Lifschitz, künstlerischer Leiter der australischen Compagnie Circa, und wer würde dem Mann widersprechen wollen? Er ist ja vom Fach und hat hauptberuflich mit Menschen zu tun, die den Normalbürger:innen in Sachen körperlicher Leistungsfähigkeit grotesk überlegen sind. Und die es aber trotzdem nicht schaffen, sich den eigenen Ellenbogen zu lecken.
Eben diese muntere Verrenkung nebst ausgestreckter Zunge ist zu bestaunen in der Show „Humans“, mit der das australische Star-Ensemble nun im Chamäleon Varieté gastiert. Die Bühne für Neuen Zirkus in den Hackeschen Höfen hat wie so viele Kulturorte anderthalb Jahre Pandemie-Zwangspause hinter sich – und will nun einen veritablen Neustart feiern. Einen Reset, inklusive neuem Logo, neuer Homepage, neuer GmbH-Struktur und frischem Qualitätsversprechen: „Gerade jetzt wollen wir in der Programmplanung keine Kompromisse machen“, so die Intendantin des Hauses, Anke Politz. Weswegen sie die Circa-Künstler:innen aus Down Under (seit 2004 in über 40 Ländern von mehr als einer Million Menschen bejubelt) gleich für vier Monate zum Gastieren in Berlin eingeladen hat.
Auf „Humans“ folgt „Humans 2.0“ – ein unter Lockdown-Eindrücken erarbeiteter „Liebesbrief an die Menschlichkeit“ (Lifschitz), was nach einem staunenswerten Spagat klingt, bevor überhaupt die Artistik ins Spiel kommt. Zudem läuft im Chamäleon das Kammerspiel „What Will Have Been“ sowie die Produktion „Circa’s Peepshow“, die in Berlin bereits zu sehen war und den Ruf der Compagnie als Spezialistenteam in Sachen augenzwinkernder Virtuosität gefestigt hat. Neuer Zirkus at it’s best, ein Spiel mit Schaulust, Körperkunst und Kitzel, befeuert vom Sound der „Sweet Dreams“ und des „Just a Gigolo“.
Was das internationale Ensemble anzubieten hat, besitzt großen Wau-Faktor
Das leitmotivische Lied in „Humans“ heißt „The Impossible Dream“ und stammt aus dem Musical „Der Mann von La Mancha“, bekanntlich eine Don-Quijote-Bearbeitung und somit die Geschichte eines vergeblichen Erfolgsbemühens bei unverdrossener Zuversicht.
Das mag im Circa-Kontext kokett klingen, weil die Akrobat:innen ja alle sehr gut sind. Aber darin drückt sich eben die Lifschitzsche Tier-Bewunderung aus: Jede verletzte Taube fliegt höher als alle Trapezkünstler:innen, kein Schlangenmensch übertrumpft jemals eine Schlange. Was das elfköpfige, internationale „Humans“-Ensemble anzubieten hat, besitzt aber dennoch einen hohen Wow-Faktor.
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Die Show bietet Marschiernummern über Schultern und Köpfe hinweg, deckenhohe menschliche Pyramiden, Tuchakrobatik, Handbalance-Kraftakte, irre Verknotungen und Verwicklungen, präzise gearbeitete Gruppen-Choreographien, schräg-schöne Flirtmomente und immer wieder beachtliche Versuche, die eigenen Grenzen über die Spanne der ausgestreckten Arme zu dehnen. Kein Moment hier ist bedeutungsschwer, zelebriert wird vielmehr das Circa-typische Vermögen, mit maximaler Kunstfertigkeit den Anschein von Leichtigkeit zu erzeugen. Menschen – das setzt diese Performance eindrücklich ins Bild – können sich auf phantastische Weise beflügeln. Oder sie sind einander ein Klotz am Bein. Auf alle Fälle können sie über sich selbst hinaus wachsen. Wenn auch nicht auf Taubenflughöhe.
[Vorstellungen bis 30.10., chamaeleonberlin.com]
Aber wer will schon so hoch hinaus? Wer muss sich schon unbedingt den eigenen Ellenbogen lecken? Auch das sagt Yaron Lifschitz: „Gerade weil wir nur Menschen sind, erlangen unsere körperlichen Leistungen eine besondere Bedeutung, Würde und Poesie.“ Und das stimmt ebenfalls.