Ausstellung zur Fußball-EM: Die Künstlerin Marianna Simnett über Gewalt und Lust im Stadion
Der ganze Raum ist mit orangefarbenem Teppich ausgelegt, in der Ecke fliegen weiße Hühnerfedern herum, Fangesänge erklingen. Auf den Screens wird gegrätscht und gefoult, gespuckt und geblutet. Eindeutig: Hier herrscht Stadionatmosphäre.
Wie die Crew von Hertha BSC sehen die Spielerinnen und Spieler allerdings nicht aus, auch wenn sie sich fies in die Beine grätschen. Eine grauhaarige Schiedsrichterin versteckt sich vor der Welt in einem Haus aus roten und gelben Karten. Ihr wird im Laufe des Films übel mitgespielt. Die Zuschauer sitzen hier übrigens nicht auf Tribünen, sondern auf Siegertreppchen. Eines ist zusammengeflickt wie ein historischer Schweineblasen-Fußball, an einem anderen baumeln lauter Männerhoden.
Niemand mag den Schiedsrichter
Man braucht Mut, oder soll man sagen: Eier?, um ausgerechnet eine Künstlerin wie Marianna Simnett um eine Ausstellung zum Thema Fußball zu bitten. Zum einen, weil sie Vorschläge von der Seitenlinie gar nicht mag. Zum anderen, weil sie mit Fußball nichts anfangen kann. Übrigens genauso wenig wie die Direktoren des Hamburger Bahnhofs, die sich trotzdem fürs Kulturprogramm der Fußball-EM beworben haben.
Till Fellrath und Sam Bardaouil versuchen, neues Publikum in ihr Museum für Gegenwartskunst zu bekommen. Dass sie an die EM andocken, hat vermutlich auch mit diesem Anliegen zu tun. Sogar die britische, in Berlin lebende Künstlerin Marianna Simnett sagt, sie wolle ein breiteres Publikum ansprechen. Man kann es kaum fassen. Ihre Kunst ist alles andere als massentauglich, viel zu verstörend, viel zu explizit, kein Tabu zu krass. In Simnetts Filminstallationen geht es um Macht, Dominanz und Unterwerfung – alles auf einer sehr körperlichen Ebene.
In „The Severed Tail“ schlägt sich ein Ferkel, dem ein Bauer den Schwanz abgeschnitten hat, mit seinem blutenden Stummel durch eine sado-masochistische Fetischwelt und stolpert von einer missbräuchlichen Situation in die nächste. In „Blood in my milk“ verstümmelt sich eine Frau, um einer Vergewaltigung zu entgehen. „Winner“, Simnetts Filminstallation zum Fußball, ist zwar weniger harter Stoff. Ans Eingemachte geht es trotzdem.
Harter Stoff und weiche Bälle
Als Künstlerin, die sich fürs Männerhobby interessiert, sei sie überall sofort willkommen gewesen, sagt sie. Offenbar kennt man im Fußball keine Berührungsängste. Auch nicht gegenüber einer Frau, die tradierte Geschlechterrollen, Männlichkeit und die Brutalität in diesem Sport kritisch betrachtet.
Dem Thema hat sie sich mit einer intensiven Recherche genähert, besuchte Stadien und die DFB-Akademie in Frankfurt. Sie las Pelés Biografie und interviewte Schiedsrichter, sah sich Dokus über Beckham und Ronaldo an, las über Hooligans. Ihr Film geht allerdings weit darüber hinaus, er enthält unzählige Bezüge, etwa zu Klaus Theweleits psychoanalytischem Buch „Männerphantasien“, einer Studie zur Gewalt und zum Ursprung des Faschismus. Die Kurzgeschichte „Zerstörungswut“ von Graham Greene aus dem Jahr 1954 stand Pate für die Randale-Szenen im Haus der Schiedsrichterin.
Deren Kartenhaus stürzt am Ende ein, ausgelöst durch eine fiese Aktion, in die ein Baby involviert ist. Der rund halbstündige Film läuft auf mehreren Screens in versetzten Sequenzen. Er ist in einem akribisch geplanten Setting inszeniert, in dem jedes Detail, jedes verwendete Material, die gesamte Choreografie zwischen Eingangstunnel, Bildschirmen und Hot-Dog-Ständen Bezüge herstellen. Die harten und brutalen Seiten der Männerbastion Fußball werden hier ebenso angesprochen wie das Weiche, Gemeinschaftliche, Alberne.
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Man hätte von Simnett erwarten können, dass sie auf maximale Distanz geht. Das Gegenteil ist der Fall. Sie hat die Rituale, Protagonisten, die Sprache und die Körperlichkeiten des Fußballs präzise beobachtet und neu inszeniert, etwa die berühmtesten Fouls der Fußballgeschichte: David Beckhams verheerender Tritt gegen Simeone, Zidanes Kopfstoß, Maradonnas „Hand Gottes“. Auch das Gefalle auf die Knie und das Rutschen auf den Rasen nach einem Tor kommen vor, Wurstverkäuferinnen rollen ihre Rollläden hoch.
Gleichzeitig kippt das, was sogar Fußball-Laien irgendwie bekannt vorkommt, ins Surreale. In den Rängen sitzen keine Ultras, sondern Babys, Brutalität wird getanzt, und der marodierenden Hahnentruppe baumelt der Hahnenkamm wie ein Lappen um den Hals.
Eine simple Breitseite gegen heteronormative Maskulinität ist diese Installation trotzdem nicht. Nichts ist eindeutig, nicht einmal die Frage, wie Gewalt zu bewerten ist. Statt die Leidenschaft für den Sport, den Fanatismus, den männlichen Hang zur Gewalt ins Lächerliche zu ziehen, verweist die Künstlerin auf Liebe und den Wunsch nach Zugehörigkeit.
Während Kompromisslosigkeit im Sport völlig natürlich erscheint, sind straffe Organisation, Disziplin und hartes Training in der Kunst kein Muss, manchmal ist eher das Gegenteil gefragt. Simnett allerdings arbeitet wie eine Spitzensportlerin, ist bekennende Perfektionistin.
Die Filmarbeiten sind ein Großprojekt, an dem ein Team aus 100 Leuten beschäftigt ist, Choreografen, Komponisten, Tänzer, Kameraleute, Postproduktion, „wie in der Spielfilmindustrie“. Und nur die Besten machen mit. Der irische Kameramann Robbie Ryan, der das schillernde Emanzipationsmärchen „Poor Things“ gedreht hat, stand auch bei Simnett hinter der Kamera. Die Goth-Punk-Ikone Lydia Lunch gibt den Babys ihre Stimme. Gedreht wurde unter anderem im Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion in Prenzlauer Berg.
Simnett fungiert als künstlerisches Mastermind, ist Regisseurin, Autorin, Drehbuchschreiberin, malt das komplette Storyboard als Aquarell. An der Slade School in London, an der sie ihren Master machte, hat sie sich auf Film und Kamera spezialisiert. Sie wählt als Berufsbezeichnung trotzdem Künstlerin, nicht Filmemacherin. Im Ausstellungsraum hat sie alle Freiheiten. Inklusive der, dass ihre Geschichten keine Auflösung brauchen. Man sieht bei „Winner“ nicht nur den Fußball in neuem Licht, sondern auch das Werk der Künstlerin. Besser hätte sie diese Torchance nicht verwandeln können.