Kontrollverlust im Herzen der Macht
Es gibt Bilder, die lassen sich nicht mehr aus dem Gedächtnis löschen, wenn man sie einmal gesehen hat. Jene von der Boeing 767, die in den zweiten Turm des World Trade Centers rast, gehören mit Sicherheit dazu. Genauso wie die, die den Einsturz der beiden Türme zeigen und die Wand aus giftigem Staub, der sich seinen Weg durch die Straßen Manhattans bahnt. Wenn diese Aufnahmen noch so gegenwärtig sind, warum sollte man sich dann einen Dokumentarfilm ansehen, der die Ereignisse vom 11. September 2001 erneut rekonstruiert?
In dem von Apple und der BBC produzierten Film „9/11 – Im Krisenstab des US-Präsidenten“ klingt immer wieder an, dass es mittlerweile eine Generation gebe, für die der 11. September 2001 nur ein geschichtliches Datum wie viele sei. Doch vom didaktischen Anliegen – und dem Gedenken an die knapp 3000 Opfer der Anschläge – einmal abgesehen, hält der Film des Briten Adam Wishart durchaus Erkenntnisgewinn bereit. Auch für jene, denen die Ereignisse von vor 20 Jahren noch gegenwärtig sind.
Der Dokumentarfilmer erzählt die Geschehnisse streng chronologisch. Immer wieder blendet er eine digitale Uhr ein, die unerbittlich vorantickt. Beginnend mit der Joggingrunde des US-Präsidenten George W. Bush um 6.40 Uhr in der Früh und dem Spätsommermorgen, der strahlend über New York heraufdämmert, über die Anschlagsserie selbst bis hin zu den unmittelbaren Folgen.
Selbst Militärs ringen im Interview mit den Tränen
Die Doku, auf Apple TV+ zu sehen, ist dicht recherchiert und routiniert inszeniert. Neben den bekannten Filmaufnahmen der Anschläge sind viele weniger bekannte Archivaufnahmen und Hunderte, zum Teil unveröffentlichte Fotos vom Präsidenten und seinem Stab zu sehen, die im Weißen Haus, im Bunker darunter und in der Air Force One von den Ereignissen überrollt werden. Parallel dazu montieren die Cutter Mark Hammill und Danny Collins Interviews, die Regisseur Wishart mit Mitgliedern der Führungsriege und anderen Zeitzeug:innen geführt hat: mit Bush, mit Vize Dick Cheney, der damaligen Nationalen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice genauso wie mit Angehörigen des Secret Service, des Militärs und der Presse. Sie alle äußern sich zu den Geschehnissen, gern auch in markigen Sätzen. Manch eine:r ringt mit den Tränen.
Immer wieder findet Wishart die passenden Bilder, um die Worte der Interviewten zu untermalen. Das Gesagte und die Aufnahmen treten in eine Wechselwirkung, die dem zügig erzählten Film Glaubwürdigkeit verleiht. Da bleiben die Beiträge von Schauspieler Jeff Daniels, der im Original den Part des Off-Erzählers übernimmt, überschaubar. Geradewegs überflüssig wirkt der stetig wabernde Musikteppich, der im Wechsel Spannung und Betroffenheit suggerieren soll. Den hätte es angesichts der Kraft der Bilder von den ungeheuerlichen Vorgängen nicht gebraucht.
Es bleibt der Eindruck: die Regierung war mangelhaft vorbereitet
Dennoch bleibt der Film über weite Strecken sachlich bei der Nacherzählung der Ereignisse. Wenn Bush, sein Stab und eine Gruppe Korrespondent:innen in den Stunden nach den Anschlägen kreuz und quer über das Land fliegen, weil sie nicht wissen, wo es noch sicher ist für den Präsidenten, wird die Doku zu einer Studie des Kontrollverlusts im Herzen der amerikanischen Macht – genau dort, wo alles darangesetzt wird, um ja nicht die Kontrolle zu verlieren.
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An Internet an Bord der Air Force One ist 2001 noch nicht zu denken, aber selbst die Fernseher im Flieger haben nur kurz Empfang, wenn die Maschine eine größere Stadt überquert. So irrt die Führung der USA ziel- und planlos durch den Luftraum. Eindrücke wie diese machen den Film aufschlussreich. Die antiquierte Ausstattung des White-House-Bunkers, wie den Regierungsmitgliedern darin der Sauerstoff knapp wird, die Angst vor einem Attentat innerhalb der Air Force One, die schiere Menge an Fehlinformationen, die durch die Kanäle der Kommunikation geistert: Die vielen sprechenden Details ergeben das Bild eines Tages im Ausnahmezustand, auf den die Regierung nur mangelhaft vorbereitet war.
Am Ende thematisiert „9/11“ auch die US-amerikanische Reaktion auf die Anschläge. Die Rechtfertigungen aus den Reihen der damaligen Regierung sind nur schwer zu ertragen. Man habe nicht genug Zeit gehabt, nicht genug Informationen, sagt Condoleezza Rice. Dennoch hält Bush am Abend des 11. September eine Rede aus dem Oval Office, in der er auch jene Staaten, die Terroristen Unterschlupf gewähren, zu Feinden der USA erklärt. Die Folgen dieser Ankündigung sind noch heute in den Nachrichten aus Afghanistan zu sehen. Wiederum Bilder, die man so schnell nicht vergessen wird.