Tango mit Hildegard

Mit Musik kann man durch Jahrhunderte reisen, als ginge man lediglich von einem Raum in den nächsten. Solange sie erklingt, spielt sie immer in der Gegenwart, egal, ob die Noten aus den Schubfächern Renaissance oder Klassik stammen, unter Romantik oder Moderne abgelegt wurden. Diese Kraft beschwört das O/Modernt New Generation Orchestra zum Auftakt seines vierten Besuchs bei Young Euro Classic.

Das Konzert des Ensembles, das junge Musikerinnen und Musiker aus Stockholm mit Profis aller Genres zusammenführt, wird aus dem Großen Saal des Konzertshauses auch hinaus auf den Gendarmenmarkt übertragen. Es beginnt mit einer Klangmeditation Hildegard von Bingens, einem schwebenden Versuch, sich dem Mysterium von Tod und Auferstehung sinnlich zu nähern. Und der Klang reißt nicht ab, er spinnt sich fort, hin zum Lied „Alma mia“ von Maria Grever, die als erste Komponistin Mexikos gilt.

Der Weg führt ins heiße Herz des Tangos

Das Fortspinnen eines Klangfadens gehört zum Markenzeichen des O/Modernt New Generation Orchestra, das von Hugo Ticciati, dem älteren Bruder des DSO-Chefdirigenten Robin von der Geige aus geleitet wird. Ticciatis langer Körper strebt auf Zehenspitzen himmelwärts, sein Orchester mit sich nehmend, und seine Stimme ist so sanft, dass man ihm die Extreme dieses Abend kaum glauben mag. Denn über die „Summer Dreams“ des lettischen Komponisten Arturs Maskats, der Gedichte von Emily Dickinson mit flirrenden, entfernt an Alban Berg erinnernden Klangkaskaden umgibt, arbeitet sich dieser Abend ins heiße Herz des Tangos vor.

Mancini liefert sich der Musik schutzlos aus

Die Brücke schlägt die Mezzosopranistin Luciana Mancini, die durch ihre Zusammenarbeit mit Klangraummagierin Christina Pluhar zur souveränen Grenzüberschreiterin reifte. Vom transzendentalen Tasten in „Summer Dreams“ tritt sie hinüber in die bittere Welt der Betrogenen, die versuchen, ihr gebrochenes Herz fühllos zu machen und doch immer spüren, was sie verloren haben. Mancini singt stets ohne Mikrofon, setzt sich den Wogen der Musik schutzlos aus, die sie bald tragen, bald überspülen, und triumphiert so auf ganzer Linie. Ob im sephardischen Wiegenlied „Nani Nani“ und seiner stillen Verzweiflung oder in Astor Piazzollas „Maria de Buenos Aires“, die es mit jedem Kerl aufnimmt – Luciana Mancini lässt die Begeisterung im Konzerthaus immer weiter wachsen. Daran haben auch die unbeirrbare Programmgestaltung und Piazzollas Jahreszeiten-Tangos ihren Anteil. Über den Gendarmenmarkt schweben Schatten auf der Suche nach einer Milonga.