Die amerikanische Fotografin Lee Miller: Ihr Blick fürs Absurde machte vor dem Krieg nicht halt

Ihren Blick für das Absurde und die lebenslange Lust am Inszenieren belegt eine berühmte Aufnahme vom 30. April 1945, auf der die amerikanische Starfotografin Lee Miller (1907-1977) selbst zu sehen ist: in Hitlers verlassener Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz, nackt in der Badewanne des Führers. 

Am Rand stehen die schmutzigen Stiefel, die sie kurz zuvor beim Besuch des Konzentrationslagers Dachau getragen hatte. Auf den Auslöser der Kamera drückte ihr damaliger Partner, der amerikanische Kriegsberichterstatter und „Life“-Journalist David Schermann, den sie anschließend in der nämlichen Wanne knipste.

Ihr Werk beeindruckt in seiner Vielfältigkeit

Beide Fotos sind jetzt im Hamburger Bucerius Kunstforum in der gemeinsam mit dem Züricher Museum für Gestaltung entstandenen Ausstellung „Lee Miller. Fotografin zwischen Krieg und Glamour“ zu sehen – zusammen mit rund 150 weiteren schönen und schrecklichen der Jahre 1928 bis 1951 aus den südenglischen Lee Miller Archives.

Mit der Schau feiert das BKF sein 20jähriges Bestehen. In ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung lobte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dass das Hamburger Museum im Jubiläumsjahr „ein deutliches Zeichen setzt gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen, die es auch in der Bildenden Kunst seit Jahrhunderten gibt“.

In ihrem Schaffen vereinte Elizabeth „Lee“ Miller virtuos Konträres: vom Surrealismus über Mode-, Porträt- und Reisefotografie– bis hin zu dokumentarischen Kriegsberichten. „Ihr Werk beeindruckt in seiner Vielfältigkeit, bei der dennoch ihre eigene künstlerische Sprache stets erkennbar ist,“ so BKF-Direktorin Kathrin Baumstark, die die Ausstellung für Hamburg umfassend kuratierte. 

Eine von wenigen Fotografinnen im Zweiten Weltkrieg

2006 hatte das Kunstmuseum Wolfsburg erstmals ein breites deutschsprachiges Publikum unter dem Titel „Begegnungen“ mit Millers umfangreichem Œuvre bekannt gemacht. In einer Sammelausstellung beschäftigte sich 2019 der Kunstpalast Düasseldorf mit Miller als einer von wenigen Kriegsfotografinnen; und in einer Einzelschau das Aachener Foto Forum in Monschau 2022 mit der Kriegszerstörung, die sie auf ihrem Weg mit der US-Army nach Süden rund um Köln dokumentierte.

Die üppige Präsentation jetzt in Hamburg zeigt als zweites von drei Künstlerinnen-Porträts in dieser Saison (nach Gabriele Münter) chronologisch in acht Kapiteln, wie Millers Biografie ihren Blick prägte. 

Lee Millers Foto „Woman with Hand on Head“ aus dem Jahr 1931.
Lee Millers Foto „Woman with Hand on Head“ aus dem Jahr 1931.
© LEE MILLER

Lee Miller begann ihre fulminante Karriere als Fotomodell in New York. Vom „Vogue“-Herausgeber Condé Nast auf der Straße entdeckt, war sie bereits mit Zwanzig, abgebildet von den bekanntesten Fotografen des 20. Jhrhunderts, in allen führenden Hochglanzzeitschriften präsent. Nach zwei Jahren vor der Kamera wechselte sie die Seite. Die Tochter eines begeisterten Amateurfotografen aus Poughkeepsie im US-Staat New York ging nach Paris, um selbst Fotografin zu werden.

Als Assistentin (und Geliebte) des avantgardistischen Fotokünstlers Man Ray avancierte sie zur Ikone der Surrealisten-Szene – mit provokant verfremdeten Aktfotos, auf denen sie entweder für Man Ray posierte oder wie bei „Nude bent forward“ (1930) als Pionierin der Kunstfotografie selbst fragmentierte nackte weibliche Körper aufnahm.

Auf sie geht unter anderem auch die Kontraste verschärfende Technik der „Solarisation“ zurück. Nach Kompositionen wie „Woman with hand on head“ (1931) reüssierte Miller wenig später in Paris als Modefotografin für Chanel und Schiaparelli. Zurück in New York porträtierte sie reihenweise die Künstler-Prominenz und Society, ab 1932 ebenso erfolgreich wie elegant verfremdet, zum Beispiel „Floating Head. Mary Taylor“.

Die Kosmopolitin mit dem perfekten Gesicht und der Traumfigur hasste Langeweile. Während ihrer dreijährigen Ehe mit dem ägyptischen Wirtschaftsmagnaten Aziz Eloui Bay in Kairo entstanden bei Exkursionen in die Wüste irritierend mehrdeutige Bilder wie „Portrait of Space“. 1937 kehrte sie in die Pariser Surrealisten-Kreise zu ihren Künstlerfreunden Man Ray, Max Ernst, Paul Eluard und Jean Cocteau zurück.

Londoner Alltag voll subtiler Grausamkeiten

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ging sie mit ihrem zweiten Mann, dem Maler Ronald Penrose, nach London, von wo aus sie als Freelancerin für die amerikanische „Vogue“ arbeitete. Ihre kunstvoll inszenierten, vom Surrealismus geprägten Aufnahmen hielten die desaströsen Begleiterscheinungen des Nazi-Bombardements für den Londoner Alltag voll subtiler Grausamkeit fest, in Bildern wie „Fire masks“ oder „Dressed for war“.

1942 ließ sie sich als einzige Kriegsfotografin bei der US-Army akkreditieren. In eindringlichen dokumentarischen Reportagen berichtete sie ab 1944 von vorderster Front vom verlustreichen Vormarsch der alliierten Truppen auf dem Kontinent.

Das Foto „David E. Sherman dressed for War“ aus dem Jahr 1943.
Das Foto „David E. Sherman dressed for War“ aus dem Jahr 1943.
© LEE MILLER

Im Schlepptau der amerikanischen Armee erlebte Miller die Befreiung von Paris und kam bei Kriegsende nach Deutschland, wo sie in den Konzentrationslagern von Buchenwald und Dachau befreite Gefangene und die Gräueltaten der Nazis fotografierte. Ihre Kriegsberichte in der „Vogue“ machten Miller zu einer der bekanntesten Bildjournalistinnen im 20. Jahrhundert.

Für ihre Dokumentation über den Zusammenbruch des NS-Regimes erntete die Amerikanerin allerdings nicht nur Zustimmung: Millers verstörende Aufnahmen vom KZ Buchenwald inmitten hocheleganter Haute Couture trugen ihr den Vorwurf einer Ästhetisierung der Schrecken von Faschismus und Holocaust ein.

Am Ende ihrer Reisen durch das kriegszerstörte Europa blieb Lee Miller in Großbritannien. Traumatisiert von ihren Erlebnissen, hörte sie bald mit dem professionellen Fotografieren auf und entwickelte eine Leidenschaft für das Kochen – in der sie ihren surrealistischen Blick nie ganz vergaß.

Über „Food, Friends, Farley Farm“ berichtet die Hamburger Ausstellung im Schlusskapitel. Der freundliche Ausklang lässt Lee Millers von Alkohol und Depressionen gekennzeichnete mittlere Lebensjahre weitgehend ausser Betracht. Sie zeichnet von Lee Miller vielmehr das unwiderstehliche Bild einer der vielseitigsten Fotografinnen und Bildjournalistinnen des vergangenen Jahrhunderts.

Auch wenn ihr unerschrockener Blick auf die Wirren und Schrecknisse dieser Epoche keineswegs ein feministischer war, ist kaum eine emanzipiertere Frau aus dieser Generation zu denken. Oder wie Kathrin Baumstark es formuliert: „Die lebenshungrige und häufig auch grenzüberschreitende Miller ließ sich nicht in Kategorien zwängen und ging stets ihren eigenen Weg.“