„Russland ist nicht Putin-Land“
Als die Schaubühne zuletzt in Russland gastierte, noch vor der Pandemie, lief der Besuch nicht gerade reibungslos. Der ukrainische LKW-Fahrer, der das Bühnenbild von Milo Raus Inszenierung „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ nach Moskau transportieren sollte, wurde zehn Tage an der Grenze festgehalten, extrem drangsaliert, sogar gezwungen, seine Schnürsenkel abzugeben, damit er sich nicht daran aufhängt. Das Team musste dann vor Ort neue Kulissen organisieren.
Nein, es war auch in der Vergangenheit nicht leicht, den Austausch mit russischen Bühnen und Künstler:innen wachsen zu lassen. Aber viele Theater, auch in Berlin, haben wie die Schaubühne beharrlich daran gearbeitet.
Umso bitterer klingt es, wenn der künstlerische Leiter Thomas Ostermeier heute sagt: „Die Arbeit, die meine russischen Freunde genau so wie ich und viele andere deutsche Kulturmacher:innen seit der Wiedervereinigung betrieben haben, um das tief sitzende Misstrauen zwischen unseren beiden Kulturnationen abzubauen – diese Arbeit ist zerstört.“ Um gleich noch anzufügen, dass er jedes ihm hingehaltene Mikrofon für folgendes Statement nutzen werde: „Es ist wichtig, die Russen von der russischen Regierung zu unterscheiden.“
Alle kritischen Kollegen fliehen aus Russland
Ostermeier steht auch in diesen Tagen in Kontakt mit Kunstschaffenden, die verzweifelt versuchen, nicht aufzugeben – wie Jewgeni Mironow, Leiter des Theaters der Nationen, an dem Ostermeier mal „Fräulein Julie“ inszeniert hat.
Tschulpan Khamatowa, die damals die Julie gespielt hat, ist hingegen, nach der Unterzeichnung einer Petition gegen den Krieg, schon ausgereist. Wie so viele andere. „Alle kritischen Partner:innen, die ich in Russland habe, fliehen”, so Ostermeier. „Und sie rechnen auch nicht damit, bald wieder zurückkehren zu können.“
Kein halbes Jahr ist es her, da war am Deutschen Theater das Stück „Bad Roads“ zu sehen. Die Geschichte einer jungen Frau, die während einer Recherche im Donbass zwischen die Fronten gerät – vor allem jene zwischen Wahrheit und Lüge. Die Produktion des Left Bank Theatre aus Kiew, gespielt in ukrainischer und russischer Sprache, lief als Gastspiel beim Festival „Radar Ost“, das im Oktober 2021 einen Fokus auf „Art(ists) at Risk“” gelegt hat. Insbesondere mit belarussischen Künstler:innen und Gruppen, aber eben nicht nur. Die Konflikte, die gegenwärtig die Lunte an die Welt legen, waren auf der Bühne jedenfalls eher angekommen als im breiten Bewusstsein.
Wie geht es weiter mit den geplanten Gastspielen?
Intendant Ulrich Khuon bemüht sich kontinuierlich darum, „Regie-Handschriften aus dem Osten Europas“ am DT zu zeigen. Wie die von Timofej Kuljabin, dem Leiter des Theaters Rote Fackel in Nowosibirsk, der zu Beginn der kommenden Saison „Platonov“ inszenieren soll. Sofern die Umstände es zulassen.
Die Arbeit eines anderen russischen Regisseurs, Maxim Didenko – die bereits Ende März ihre Premiere hätte feiern sollen – musste soeben auf Eis gelegt werden. Didenko ist in einer Probenpause nach Moskau geflogen. Jetzt kann er das Land nicht mehr verlassen. Die Produktion per Zoom zu Ende zu führen, sagt Khuon, sei keine Option.
Was für den Intendanten ebenfalls nicht zur Debatte steht: russische Künstler:innen zu boykottieren. „Wir arbeiten an der Verbindung, nicht an der Trennung.“ Zumal es Khuon an seinem Haus natürlich nicht mit den Netrebkos und Gergijews dieser Welt zu tun hat.
Sondern mit regimekritischen Theatermachern wie Kirill Serebrennikov, der unter Putin schon verhaftet und mit Hausarrest belegt wurde. Doch generell würde Khuon nicht „aus sicherer Entfernung“ Gesinnungsnachweise von Künstler:innen verlangen, die im Zweifelsfall extrem gefährlich für diese werden könnten.
Die Netzwerk-Arbeit von Jahren ist zerstört
Aktuell beschäftigt den Theaterleiter auch die Frage, wie er mit den geplanten Aufführungen von Serebrennikovs „Decamerone“ verfahren soll, einer Koproduktion zwischen DT und Gogol Center Moskau mit deutsch-russischer Besetzung. Im April stünden Termine in Moskau an. Falls das Reisen überhaupt möglich wäre – sollte man das Risiko eingehen, um wenigstens die künstlerischen Bande nicht abreißen zu lassen?
[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]
Shermin Langhoff, die Intendantin des Gorki Theaters (das nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst das „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ war), hat gerade eine E-Mail vom leitenden Dramaturgen Johannes Kirsten erhalten, der schon länger mit der ukrainischen Regisseurin Roza Sarkisian in Kontakt steht. Man hatte zuletzt über ein Gastspiel von Sarkisians Inszenierung „The H-Effect“ nachgedacht. Jetzt ist die Künstlerin in Polen und hilft dort Geflüchteten – während sich das gesamte Ensemble von „The H-Effect“ im Krieg befindet, als Soldat:innen oder Freiwillige. Sarkisians armenische Eltern wiederum, die in ihrem Leben schon mehrmals vor Kriegen fliehen mussten, harren in Charkiw aus. Ihnen fehlt die Kraft, erneut die Koffer zu packen.
Solidarität auf allen Ebenen
Der Krieg produziert gerade ungezählte solcher Geschichten, die genau so erschüttern wie die Bilder, die uns erreichen. Nicht nur jene von zerbombten Häusern. Zu Recht verweist Langhoff aber auch darauf, dass wir „gleichzeitig auf allen gesellschaftlichen Ebenen und von allen Institutionen eine Solidarität sehen, wie wir sie lange nicht erlebt haben“.
Die zeigt sich auch am Gorki an einer Vielzahl von Gesten, die für sich genommen und in der Summe Bedeutung gewinnen – sei es, dass die in Moskau geborene Schauspielerin Anastasia Gubavera zuletzt in der Yael-Ronen-Inszenierung „Slippery Slope“ mit einem „Stop the War“-Schild aufgetreten ist, sei es, dass Dimitrij Schaad – bis zu seinem achten Lebensjahr in der kasachischen Hauptstadt Almaty aufgewachsen – kürzlich eine Lesung kritischer russischer, ukrainischer und belarussischer Stimmen abgehalten hat.
Die dem Gorki eng verbundene Autorin Sasha Marianna Salzmann (deren aktueller Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ sich der Geschichte von Frauen in der Ostukraine widmet) ist derweil nach Polen gefahren, um dort die ukrainische Kollegin Anastasiia Kosodii abzuholen. Kosodii hat vor ein paar Jahren an dem internationalen Dramatiker:innen-Labor „Krieg im Frieden“ am Gorki teilgenommen und dort das Stück „Time-traveller’s Guide to Donbas“ entwickelt.
Die Netzwerke des Theaters funktionieren. Und natürlich denkt Langhoff bereits über den nächsten Schritt nach: „Wie wir Künstler:innen im Exil helfen können“, selbstredend auch russischen. Man könne nicht oft genug daran erinnern: „Russland ist nicht Putin-Land“.
Thomas Ostermeier erzählt noch von einem Telefonat, das er mit Roman Doljanski geführt hat, der das „Territoria“- Festival in Moskau leitet, wo die Schaubühne im Herbst hätte gastieren sollen, mit „Das Leben des Vernon Subutex I“. Doljanskis Gefühl sei, „dass er gerade das wirkliche Ende der Sowjetunion erlebt“.