Stunde Null einer neuen Ära

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer

Wenn professionellen Formulierern die Sprache verrutscht, ist Krieg oder Zeitenwende oder beides. „Von einem Tag, nach dem nichts mehr ist, wie es einmal war“, schrieb die „Süddeutsche“, obwohl gar nicht so wenig ganz wie immer war: im Land, im Rest der Welt und sogar im Bundestag.

Sprache kann in Wochen wie diesen so absolut und lüstern dröhnen wie in einem Döpfner-Kommentar. Sie sollte sich drosseln, gerade jetzt.

Da nämlich Gewissheiten in Kriegszeiten bestenfalls rückwärts, nicht aber in Richtung Zukunft zu haben sind, tasten wir uns furchtsam voran und lernen schon wieder neue Wörter: Hyperschallrakete. Gerade erst haben wir Klima-, dann Pandemievokabeln studiert. Dass all dies zusammenkommt, die Erderwärmung, Corona und nun der Krieg in Europa, macht die Wucht dieser Gegenwart aus, vom Scholz-Wort „Zeitenwende“ treffend erfasst.

Eine zweite bipolare Ära mit China und USA

Nach der bipolaren, von der Sowjetunion und den USA dominierten Welt von 1945 bis 1989 und der amerikanischen Ära von 1990 bis 2008 scheint etwas Neues zu beginnen: Vielleicht wird es eine zweite bipolare Ära (mit China und den USA), vielleicht eine multipolare, da Länder wie Russland die Waffen und offenbar den Willen haben, die globale Ordnung und internationales Recht zu zerstören.

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Wenn dies die Stunde Null einer beginnenden Ära ist, ist nichts mehr oder noch nichts gefügt. Das könnte eine Chance sein, aber die Gefahren sind größer: Fehler werden meist zu Beginn von Neuem gemacht, aus Hybris, aus Unkenntnis.

Darum wäre Kommunikation so wichtig, der Austausch von Wissen, und darum ist es erschütternd, wie Wladimir Putin kommuniziert. Nach 22 Jahren an der Macht und zwei Jahren neurotischer Isolation (wegen des Virus) hat er sich von Wirklichkeit und Debatte verabschiedet. Putin treffe seine völkisch-grausamen Entscheidungen, so heißt es beim BND, weil er nur noch höre, was aus Putins Sicht gute Nachrichten seien, respektive das, wovon seine zehn Meter entfernten Einflüsterer glaubten, er wolle es hören: Läuft super, der Krieg, der nicht so heißen darf.

Kaum noch Gespräche mit Russland

All das allerdings wissen auch wir nicht wirklich, wir ahnen es nur, denn Russland und der Westen sprechen kaum mehr miteinander; selbst der BND deutet bloß, vermutet aus der Ferne, dass vielleicht Sanktionen Putin zu Atomschlägen verführen könnten, vielleicht auch das Ausbleiben von Sanktionen.

Xi Jinping (aus Putins Sicht einer von drei Männern auf Augenhöhe) könnte vermitteln und tut es nicht, beobachtet halt interessiert, wie USA und Russland miteinander ringen. Joe Biden (aus Putins Sicht …) könnte mit Xi sprechen und tut es nicht, denn er hat China zu seinem Feindbild erkoren.
Nur einer kommuniziert gekonnt, und die Welt bewundert ihn: den Angegriffenen, Wolodymyr Selenskyj.