Riesenego schrumpft auf Zwergengröße
Mary Shelley ist zu Unrecht nur für ihren Schauerroman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ weltberühmt geworden. Hat sie doch noch weitaus mehr – und mindestens Vergleichbares – geschrieben. Vieles davon wartet immer noch darauf, entdeckt werden. Wie die Erzählung „Verwandlung“ mit ihrer diabolisch gefeierten Lust am Untergang des Individuums. Eine typische Vertreterin der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, dem Tummelplatz für verlorene Seelen und beschädigte Identitäten.
Lara Swionteks erste Graphic Novel kann das jetzt ändern: Die Lübecker Illustratorin hat sich dazu Shelleys Geschichte als Vorlage ausgesucht, den Titel „Verwandlung“ (avant, 192 S., 26 €) beibehalten und daraus eine ausdrucksstark gezeichnete und psychologisch abgründige Krisengeschichte des modernen Ichs gemacht.
Ohne feste Panelaufteilung, mal formatfüllend, mal als Wimmelbild, zeichnet sie das Leben und Erleben des arroganten Egomanen Guido aus Genua als etwas andere Entwicklungsgeschichte nach: von den Anfängen als verwöhntem Spross eines schwerreichen Unternehmers bis zum krachenden Scheitern am Ende.
Je nach Stimmung und Dramatik lässt Swiontek die Farbwelt monochrom changieren, von Rosa über Blaugrau und Gelb bis hin zu finalen Dunkeltönen.
Bizarrer Körpertausch mit zwielichtigem Zwerg
Von der ersten Seite an mag man sich nicht wirklich auf den Fiesling Guido Carega einlassen. Auch dann nicht, als er die Liebe entdeckt und in (der vermögenden) Juliet scheinbar seine Traumfrau findet. Denn gleich nach dem Tod seines schwerreichen Vaters verlässt Guido die Verlobte, um mit der Jeunesse dorée von einem europäischen Party-Hotspot zum nächsten zu jetten.
Erst als vom Erbe nichts mehr übrig ist, erinnert er sich wieder an Juliet. Eine Heirat mit ihr würde seine Probleme lösen. Doch der Schwiegervater hat derweil einen Ehevertrag aufgesetzt. Er erlaubt Guido zwar ein adäquates Leben, verweigert ihm aber den Zugriff aufs Vermögen seiner Ehefrau. Was soll er tun?
[Patchworkfamilien und andere Lebensentwürfe: Hier gibt es einen Beitrag von Oliver Ristau im Tagesspiegel über Frankenstein im Comic]
Am Tiefpunkt seiner selbst verschuldeten Verzweiflung begegnet ihm ein zwielichtiger Zwerg. Der bietet Guido wahlweise eine Schuldner- und Lebensberatung an – die für den hochmütigen jungen Mann nicht mal ansatzweise in Frage kommt. Oder eine alternative Exit-Strategie aus der Finanzmisere: Bei einem bizarren Körpertausch borgt sich der Zwerg drei Tage lang den schönen Körper Guidos, während der im Gegenzug dafür in Gestalt des Zwergs unbegrenzten Zugriff auf dessen Goldschatz hat.
Kommt der Kobold nach drei Tagen zurück? Natürlich nicht! Und so macht sich der geleimte Guido auf, die vertraglich zugesicherte Rückverwandlung notfalls mit Gewalt einzufordern.
Sinnbilder einer zerrissenen Identität
Erscheint der Plot beim ersten Lesen noch klar und eindeutig, gerät das Bild auf den zweiten Blick zunehmend ins Wanken: Wer ist hier eigentlich wer? Hat die Verwandlung wirklich stattgefunden? Kehrt am Ende jeder wieder in seinen Körper zurück?
Klare Antworten gibt es nicht. Das passt dann auch wieder sehr gut zu den Leitthemen der Graphic Novel: Das verunsicherte Ego taumelt halt- und orientierungslos durch eine Welt, der die Werte abhandengekommen sind. Selbstbestätigung erfährt es durch die Anerkennung anderer Narzissten, Selfies dienen der digitalen Selbstvergewisserung.
Bei Lara Swiontek werden ein expressionistisch gezeichneter Sturm über dem Meer oder reizüberflutende, detailreiche Szenen in der Stadt zu wirkmächtigen Sinnbildern der Ich-Krise und überwältigenden Emotionen, die das Individuum überfordern.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Vor allem der Moment der teuflischen Transformation, in der Mann und Zwerg die Körper tauschen, gerät bei Swiontek überaus eindrucksvoll. Wortwörtlich geht dabei ein Riss durch Guidos Identität und entblößt das grausige Innere unter der schönen Schale.
Elegant und scheinbar mühelos löst Swiontek auch das Setting von Shelleys Erzählung aus dem historischen Rahmen der Renaissance. Stattdessen bettet sie Handlung in eine überzeitliche italienische Campagna-Landschaft ein, während die Akteur:innen im Vordergrund in Hipster-Outfits durchs quirlige Leben einer modernen Stadt eilen und dabei auf Handydisplays tippen.
So entsteht nicht nur ein optisch reizvoller Kontrast aus Zeitlosigkeit und Gegenwartsbezügen. Lara Swiontek erleichtert uns damit auch den Zugang zu einem eher gewöhnungsbedürftigen, schauerromantischen Stoff.