Mathieu van der Poel ist der König von Schlamm, Sand und Lehm
Er ist ein Multitalent. Vier Wochen ist es erst her, da fuhr Mathieu van der Poel noch auf der Straße. Auf den schmalen bretonischen Landstraßen schoss er plötzlich aus dem kompakten und nicht eben langsam fahrenden Peloton der Tour de France heraus. Er strebte als Solist der Mur-de-Bretagne zu, einer bis zu 13,4 Prozent steilen Steigung, die nicht umsonst auch Wand genannt wird.
Er erreichte den Gipfel auch mit Vorsprung. Das Problem war nur: Die gleiche Wand musste er noch einmal hoch fahren. Wer jemals eine Attacke im Radsport probiert hat, weiß, wie ausgelaugt der Körper danach ist. Verbrannt sind alle Kraftreserven. Van der Poel aber trat auch beim zweiten Mal wieder an – und löste sich. Es war eine Doppelattacke für die Geschichtsbücher. Van der Poel holte damit nicht nur das Gelbe Trikot, das seinem Legenden-Opa Raymond Poulidor zeitlebens verwehrt gewesen war. Er grüßte seinen zwei Jahre zuvor verstorbenen Großvater auch mit einem in den Himmel weisenden Finger.
Er hatte auch etwas vollbracht, was Straßenprofis eher selten gelingt: Eben zwei derart mächtige Beschleunigungen kurz hintereinander. „Mathieu aber kann das. Er hat den Körper dafür“, sagte van der Poels Teamchef Christoph Roodhooft später. Denn Van der Poel ist im Gelände aufgewachsen, beim Cyclocross und Mountainbike. Dort wurde er mehrfacher Weltmeister und Europameister, bevor er wieder auf die Straße wechselte, in den großen Geldradsport. Dort holte er Klassikersiege, wie etwa bei der Flandernrundfahrt, und zuletzt das Gelbe Trikot in Frankreich.
König von Schlamm, Sand und Lehm
Aber eigentlich, in seinem Herzen, und auch mit seiner gesamten Muskulatur, ist er der König von Schlamm, Sand und Lehm. „Die Rennen im Gelände sind viel abwechslungsreicher. Es passiert viel mehr, du muss explosiver fahren. Bei Straßenrennen rollt es lange nur so dahin, bis etwas passiert. Die sind über Stunden doch extrem langweilig“, sagte van der Poel einmal am Rande eines Straßenrennens.
Die belebt er er dann mit seiner Vielseitigkeit, tritt an, viele Kilometer vor dem Ziel, beschleunigt extrem und hält den Vorsprung. So hat er viele Rennen im Gelände gewonnen. So viele, dass es die Konkurrenz schon frustrierte. Manche, wie der Berliner Philipp Walsleben, wechselten gleich ganz auf die Straße. „Als Mathieu und Wout van Aert auftauchten, ging es für uns andere ja nur noch um Platz drei. Das wurde dann wie ein Sieg gefeiert. Da musst du deinen Sport schon sehr lieben, wenn du trotzdem weitermachst“, meint Walsleben, der inzwischen auf der Straße van der Poels Teamkollege ist.
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Jetzt, im Schatten des Fujijama, kehrt van der Poel vom befestigten Gelände aufs freie Geläuf zurück. Damit sich der Körper an die Umstellungen gewöhnen kann – statt sechs Stunden Ausdauerleistung wie bei einer Tour de France-Etappe geht es es jetzt um explosive 90 Minuten – verließ van der Poel die Tour de France vorzeitig.
„Ich musste erst wieder das Gefühl für das Mountainbike wiederfinden. Es unterscheidet sich doch massiv vom Straßenrad. Aber ich denke, es ist mir gut gelungen“, sagte er. Van der Poel zog auch erst spät ins Olympische Dorf ein. „Die Regeln hier sind so strikt, nur im Hotelzimmer sitzen ist einfach nichts für mich“, ließ er mitteilen. Also tobte er sich zu Hause auf dem Mountainbike aus.
Der Freude wegen
Trotz der Erfolge und des Geldes, das er dabei verdient, macht der Niederländer noch immer den Eindruck, dass ihm Rad fahren vor allem Freude bereitet, dass es das ist, was er mag. Und deshalb kann er eben auch nicht genug kriegen. Er fährt im Winter Cyclocross und Frühjahr, Sommer und Herbst teilt er sich in Slots auf dem Moutainbike und auf dem Straßenrad ein. An die manchmal qualvolle Umstellung hat er sich inzwischen gewöhnt. „So ein Umstieg ist immer ein Schock für den Körper. Die Belastungen sind einfach anders“, erzählt er. Aber das sich selbst schockieren, reizt ihn offenbar auch. Er ist so gut im Wechsel der Disziplinen, dass sein Straßenkollege Matteo Trentin schon twitterte: „Wenn der zum Snooker antritt, wird er auch noch da Weltmeister.“ Jetzt will er am Montag erst einmal Olympiasieger im Mountainbike (8 Uhr, ZDF und Eurosport) werden.
Ganz einfach wird das nicht. Nur Spalier fahren wird die Konkurrenz sicher nicht. „Er ist ein wahnsinniges Talent, auch ein cooler Typ. Er hat aber auch drei Jahre gebraucht, um den Weltcup zu gewinnen. Er könnte gewinnen, ist jedenfalls einer der Topfavoriten. Es ist aber vielleicht nicht unbedingt sein favorisiertes Wetter angesichts seiner Größe und der Muskeln, die mitschleppt“, wies der deutsche Olympiastarter Manuel Fumic auf die hohen Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit hin. Da könnte sich auch negativ bemerkbar machen, dass van der Poel erst spät nach Japan reiste.
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Das olympische Straßenrennen, für das er wohl auch zum erweiterten Favoritenkreis gezählt hätte, ließ er indes aus. Es fand zwei Tage vor dem Mountainbike-Rennen statt – zu wenig Zeit für die Umstellung selbst für dieses Multitalent.
Sollten die Olympia-Planer den Zeitplan mal entzerren, und das eine van der Poelsche Rennen an den Anfang der Spiele und das andere ans Ende legen, könnte er sogar Medaillen hamstern. Oder folgt dem Rat Trentins und sattelt noch auf Snooker um. Für Tokio hat es der Tischsport noch nicht ins Olympische Programm geschafft, an der Bewerbung 2024 wird aber gewerkelt.