Licht am Ende der Krise
Oedipus, Regierungschef von Theben, hat ein immenses Problem. Die (Pest-)Seuche wütet in der Stadt – als Fingerzeig für eine umfassende Krise, die an Symbolkraft nichts zu wünschen übriglässt.
Über fünf Akte wird nun in der Oedipus-Tragödie des Sophokles Ursachenforschung betrieben – was im antiken Investigativdrama heißt: Es wird nach dem krisenverantwortlichen Übeltäter gefahndet, dem Sündenbock und „Schandfleck“, der die Stadt ins Verderben gestürzt hat.
Der König, der einst seiner Klugheit bei der Rätsellösung der Sphinx wegen ins Amt gekommen ist und somit quasi die fleischgewordene Dialektik von Wissen und Macht an sich darstellt, setzt einen Untersuchungsprozess in Gang, an dessen Ende er selbst als Täter steht. „Du bist es, der unsrem Land ein Fleck ist“, schleudert der Seher Teiresias seinem König in der Sophokles-Übertragung von Friedrich Hölderlin entgegen, auf die Ulrich Rasche in seiner Inszenierung am Deutschen Theater Berlin zurückgreift. (wieder am 31.8. sowie am 11. und 12.9.)
Der Fleck-Metaphorik folgend, ließe sich die Causa freilich dahingehend konkretisieren, dass es gerade des IQ-begabten Oedipus’ blinder Fleck ist, der die Stadt in die Krise stürzt: die ihm nicht bewusste Vorgeschichte von Vatermord und Ehelichung der eigenen Mutter.
Der Stoff bietet Steilvorlagen en masse für dramatische Aktualisierungen. Aber Ulrich Rasche war bekanntlich noch nie ein Regisseur der konkreten Gegenwartsbezüge; ihn interessiert nicht die Verengung von Texten zu Zeitdiagnosen, sondern eher die gegenläufige Bewegung: ihre Öffnung zu Resonanzräumen, in denen Gegenwart sich eher undidaktisch ein- statt plakativ herstellt.
Rasche hat eine starke ästhetische Setzung
Die Gefahr, dass große Motive kleinpsychologisiert werden, besteht bei Rasche schon deshalb nicht, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler sich abendfüllend auf riesigen Drehscheiben oder Laufbändern bewegen, so dass die Taktung der Schritte auch die Texte rhythmisiert.
Die daraus resultierende Sprechweise macht das Versenden eineindeutiger Botschaften per se unmöglich. Im Idealfall entstehen so überaus anregende Denkräume.
Dafür existiert bei Rasche, wie bei jedem Regisseur und jeder Regisseurin mit einer starken ästhetischen Setzung, natürlich eine andere Gefahr: Verfügt das Prinzip über genug Innovationskraft – oder droht es, in bloßer Routine zu erstarren?
Bei seiner letzten Inszenierung am Deutschen Theater Berlin, Sarah Kanes Kanes „4.48 Psychose“, hatte der Regisseur darauf eine klare Positiv-Antwort gegeben: Mit Komponist Nico van Wersch und dem Ensemble war ihm eine neue, außergewöhnliche Lesart des Stückes der britischen Dramatikerin gelungen, die 1999 Suizid beging.
Klarsichtig legte der Abend hinter dem Psychiatrie-Drama eine überindividuelle Dimension frei, zeigte Kanes Status-quo-Diagnose als globale existenzielle Verunsicherungserfahrung, die durch den biografischen Kontext bis dato verstellt gewesen war.
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Jetzt also Antike statt 20. Jahrhundert – und tatsächlich gelingt dem Regisseur mit van Wersch und den DT-Spielerinnen und -spielern erneut ein Überraschungsmoment. Das Markenzeichen des Regisseurs, die riesigen Drehscheiben und Laufbänder, sucht man vergebens auf dem von Rasche selbst unter Mitarbeit von Leonie Wolf kreierten Szenario.
Zwar ist das Ensemble, wie gehabt, abendfüllend in Bewegung, dies aber „nur“ auf der durchgängig rotierenden Drehbühne. Das erweitert, ganz buchstäblich, den Spielraum; es ermöglicht eine individuellere Figurenaneignung. Und die DT-Crew macht – von Clemens Leander in zeitloses Schwarz mit antiken Kostümanleihen gekleidet – davon regen Gebrauch. Selten jedenfalls sah man an Rasche-Abenden Figuren einander derart konkret im Nacken sitzen wie hier.
Manuel Harder als Oedipus, dessen zentrales und vielfach eingeklagtes Macht-Tool, die Aufklärung, sich zusehends gegen ihn selbst wendet, gewinnt dem Abend tatsächlich eine hochkomplexe Machtstudie ab. Sensationell, wie er angesichts der eigenen Schuldahnung lieber erst einmal die Aufklärer abkanzelt und sich in Verschwörungstheorien flüchtet, als die Komfortzone des eigenen blinden Fleckes zu verlassen; dabei immer aber auch gepiesackt vom eigenen Rationalitätsanspruch, der der Verdrängung im Wege steht.
Komponist Nico van Wersch erzeugt eine komplexe Klangebene
Der Abend erfordert die große Schauspielkunst, aus den Figuren zwar einerseits markante Charaktere herauszudestillieren, sie dabei aber andererseits nicht (küchen-)psychologisch herunterzudividieren oder pathetisch zu verkitschen: ein schmaler Grat, auf dem neben Harder auch Almut Zilcher als Gattin und Mutter Jokaste sowie Elias Arens als Schwager Kreon oder der Chor in Gestalt von Linda Pöppel, Toni Jessen und Yannick Stöbener beglückend sicher balancieren.
Dieses Changieren zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, zwischen Prinzip und Figur sieht man in dieser Genauigkeit wirklich selten. Und wie groß die Herausforderung ist, zeigt sich im Auftritt von Kathleen Morgeneyer, die ihre Rolle des Sehers Teiresias im schwarzen Stretch-Abendkleid recht eineindeutig im Wehklage-Gestus anlegt und so auf einen hohen Pathos- und Tragödienton hebt, der den ansonsten hochpräzisen Untersuchungsgestus des Abends zwischenzeitlich leider etwas verwischt.
Für dessen Gesamtgelingen entscheidend mitverantwortlich sind die Kompositionen Nico van Werschs, die ebenso traumwandlerisch wie die Schauspieler der Versuchung zur platten Textillustration widerstehen. Vielmehr erzeugt van Wersch eine komplexe Klangebene als zusätzliche Reibungs- und Kommentarspur, die von den Live-Musikerinnen und Musikern kongenial interpretiert wird.
Am Schluss steht Oedipus nackt auf der Szene: Eine große Geste an diesem minimalistischen Abend, der – abgesehen von der leeren (Dreh-)Bühne, auf der das Personal in einem perfekt abgedimmten Nebel wie von Geisterhand auf- und wieder abtaucht – nur noch mit Licht arbeitet: verschiedenfarbige Leuchtringe, die sich je nach Geschehen heben oder senken, quer oder parallel zueinander stellen und letztlich über allem stehen wie Planetenbahnen des Universums.