A Child of Our Time: Der letzte Appell an das Gute im Menschen vor seinem Untergang

Zurückhaltend geht Dirigent Sergi Gili Solé letzten Sonntagabend Tippett an, das hat man schon drängender gehört – und zum Glück! Ein kurzes Beben macht den Anfang, beruhigt sich auf getragenen Streichern. Dann gedämpfte Trompeten mit einem amerikanischen Klang. Den schätzt man in der Filharmonia Pomorska aus dem polnischen Bydgoszcz sowieso, gerade diesem Welten verbindenden Oratorium Tippetts steht der aber auch ganz hervorragend. „The world turns on its dark side“ – als könnten sich Schallwellen in ähnlicher Weise aufschaukeln, wie die See vor einem Sturm, ertönen diese Unglück verheißenden Worte. Und das mit einer natürlichen Gravitas, die keines besonderen Nachdrucks bedarf.

Sir Michael Tippett wusste, dass die schrecklichsten Botschaften wie nachrichtliche Meldungen anmuten müssen, um am meisten zu bewegen. Gekünstelte Emphase sucht man auch in dieser Interpretation zum Glück vergebens. Im Gegenteil – anfangs könnte man fast meinen, dass sich der Klangkörper der Bydgoszczer Philharmoniker im Verbund mit dem Kammerchor der Musikakademie Bydgoszcz und der Berliner Cappella ein wenig zu nüchtern einschwingt, so klar, trennscharf, barock geben sich die Stimmen und Sektionen.

Der Komponist Michael Tippett
Der Komponist Michael Tippett

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Später, im Finale, geht das Kalkül aber auf, wenn sich das kleine Orchester zu einem breiten Klang aufspielt, wie in einem Largo Gustav Mahlers. Sergi Gili Solé lässt Tippetts Musik souverän für sich sprechen, statt ihr ein eigenes Statement aufzudrücken – gut so. Und auch die Solist:innen gehen mit, glänzen gerade dadurch, dass sie dem Gesamtklang zutragen, statt sich betont von ihm abzusetzen. Hervorheben muss man allerdings Sopranistin Alessia Schumacher, deren gelenkiges Klangfarbenreichtum und dynamische Reichweite mal mühelos in den Chor einzutauchen scheint, um gleich wieder überraschend zwischen den Holzbläsern aufzutauchen.

Wahre Begebenheiten als Grundlage

„A Child Of Our Time“ – Als „Kind unserer Zeit“ erkannte der Komponist den jungen Herschel Grynszpan, der als Jude 1936, gerade 15 Jahre alt, in Nazideutschland keine Arbeit fand, dem die Einreise nach Palästina verwehrt wurde, der vor den Nazis in Paris untertauchte, aber keine Bleibeerlaubnis bekam. Als ihm noch die Wiedereinreise nach Deutschland verwehrt wurde und er in einem Brief von der sogenannten „Polenaktion“ erfuhr, bei der seine gesamte Familie deportiert worden war, ging er 1938 in die deutsche Botschaft Paris und schoss auf einen Mitarbeiter, der später seiner Verletzung erlag.

Herschel Grynszpan hatte wegen des Naziterrors alles verloren. Seine Verzweiflungstat wurde ihnen Anlass für die Pogrome des 9. November 1938.
Herschel Grynszpan hatte wegen des Naziterrors alles verloren. Seine Verzweiflungstat wurde ihnen Anlass für die Pogrome des 9. November 1938.

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Geschichte machte der Fall, als die Nazis ihn zum billigen Vorwand für ihren Terror der Reichspogromnacht machten. Tippett, der Pazifist, der wegen Wehrdienstverweigerung einen Gefängnisaufenthalt in Kauf genommen hatte, begann die Arbeit an „A Child of our Time“ am 3. September 1939 – dem Tag, an dem England Nazideutschland den Krieg erklärte, 1941 stellte er es fertig. Aber nicht die längst sichtbar gewordene Niedertracht selbst schrieb Tippett in seine Partitur ein. Denn diese Musik ist alles andere als düster und gebrochen. Sie thematisiert das zunehmende Dunkel, ohne je selbst Dunkel zu werden.

Das Dunkel dient ihr vielmehr als Leinwand für einen strahlenden letzten Anruf des Guten und Solidarischen im Menschen, den Tippett hier unisono emanzipatorische Spirituals wie „Go down Moses“ von überwältigender Strahlkraft und Schönheit singen lässt – umso strahlender und schöner, wenn von metallischer Dissonanz umgeben. Unheimlich kraftvoll ist das, gerade heute, sodass Sonntagabend der Großteil des Publikums zum Applaus stand. Und man unwillkürlich an all die Menschen dachte, die in den letzten Monaten gegen eine wiederkehrende rechte Bedrohung in den Straßen deutscher Städte standen. Nach dem Holocaust, das wissen wir mit Gewissheit, konnte so nicht mehr komponiert werden.