Klagen in der Dichtung: Der beredte Schmerz

Als biblisches Klagelied, Trauergesang, Totenklage oder Elegie macht Klagedichtung einen wichtigen Teil der Literaturgeschichte aus. Die Texte, die aufgrund von Krankheit, Schmerz, Gewalt, Zerstörung und Verlust entstehen, haben das Leiden, aus dem sie entstanden sind, nicht auf, suchen aber eine künstlerische Form dafür. Asmus Trautsch und Melanie Katz haben für das Berliner Literaturforum im Brechthaus eine zweitägige Veranstaltung zum Thema konzipiert, die möglichst vielen Aspekten gerecht werden soll. Zur Eröffnung hält die Schriftstellerin Ulrike Draesner eine Rede, aus der wir einen Auszug dokumentieren. 

Klage ist beredt. Ich höre Stimmen. Einen Chor. Formalisiertes Sprechen. Ich höre Wörter wie „Anklage“ und „Lage“. Wer von letzterer spricht, hat Überblick. Er/sie beurteilt die Situation – die Anordnung der Körper und Dinge. Steht außerhalb.

Die Klage enthält beides: innen und außen. Immersion und – Reflexion. Sie ist weich und laut. Auf etwas Abwesendes gerichtet (Das Verlorene oder das, was fehlt) und auf etwas Anwesendes: Die Hörenden. Auch: jene, die mitleiden oder es richten sollen. Sie beklagt, dass nichts zu richten sei (der Tote kehrt nicht wieder) – und verlangt eben dies. Sie repräsentiert den Schmerz, IST Schmerz, und stellt ihn aus. Sie lebt aus der Spannung zwischen Inhalt und Performanz. Sie ist nie „nur“ bei sich, nie „rein“ oder „unmittelbar“. Was sie innerlich beklagt, kann innerlich nicht gesprochen, sondern nur nachgeahmt sein.

Das Innere der Klage erscheint im Lament. Es klingt an: lacrima. Lacrimae, die Tränen, sind das Klagen des Körpers. Unberedt (nichtverbalsprachlich) beredt.

Eine Klage nur als Wort verkommt rasch zum Transportgefäß für andere Anliegen, die im Mantel der Klage verborgen werden. Gibt mir … Geld, Erfolg, Mitleid etc. So etwa im Minnesang, in dem der Sänger rollenhaft darüber klagt, von der frouwe nicht erhört zu werden, damit er erhört wird, was selbst aber immer noch nur Spiel ist, denn tatsächlich klagt er, damit man bewundere, wie hervorragend er klagen kann.

Anders gesagt: in einer Klage, der ich glauben kann – die mich berühren dürfen soll, spricht der Körper mit.

Vielleicht denke ich deswegen bei Klage zuallererst weder an einen juristischen Vorgang oder an ein Gedicht. Ich denke an einen körperlichen Vorgang, an Laut-gabe. Sie muss nicht einzeln erfolgen. Sprich: kann durchaus öffentlich sein. Doch es handelt sich nicht um Normal- oder Alltagssprache. Nicht um Wohlgeformtes. Sondern um somatische Äußerung – zwischen Sprechen und Schmerzenslaut. Lautung: Diese scharf-weiche, empfindenden Stelle der Artikulation. Des ersten Formgebens, Übersetzens eine Zustandes – eines Zugestoßenen, eines Befallenseins mit „einer Lage“ in Antwort – als körperliche, Lautung mitaufrufende Reaktion.

In der Nähe der Träne.

Des Ballens der Hände.

Der Taubheit im Bauch oder anderswo.

Doch: Mit Atem und Stimmband.

Was, soma-semantisch heißt: dass ich ausatme. Dass etwas mich verlässt.

Womit ein erstes Paradox des Klagens präzise umschrieben ist: ich lasse etwas los. Es erleichtert mich, zum einen; doch zugleich bestätigt/vertieft es den Verlust.

Und das zweite Paradox: Sind Klagen Gefäße? Als Gefäß könnte eine Klage meinen Schmerz enthalten und – wegbringen. Vielleicht wünscht man sich das. Doch: eine Klage ist kein Gefäß: Schmerz kann nicht enthalten werden. Nicht wie die Fruchtschale Erdbeeren enthält.

Die Klage ist subversiv. Nicht ich benutze sie, sie benutzt mich. Mein Schmerz, mein Verlust sind ihr Gefäß. Gefäße sind Hohlformen: Sie haben Umrisse, Kanten – und Leere. Mein Schmerz ist ein in mich gestelltes, mich verstörendes Gefäß, das sich in mir verkantet und in dessen Leere die Klage sich bilden, aus der sie entweichen kann.

Auf Grund dieser beiden Paradoxa – Lautung zwischen Semantik und Somatik, Umkehr der Agency im Umgang mit Leere, ist die Poesie DIE Form der Klage. Poesie kann Mikro-Makro zugleich, das Größte und Kleinste, das Ich und Alle. Poesie schmiegt sich an. Poesie lebt von Lücke und Leere.

Poesie als Trost aus Verstörung zu verstehen, entspricht vielleicht nur meinem Geschmack. Wann suche ich Poesie auf? Wann brauche ich sie, wo spricht sie am lebens-notwendigsten zu mir? Ihr Trost ist nicht billig, wenn er den Namen Poesie verdient. Er ist ein Trost aus dem Sprechen selbst – dem Nicht-Verstummen. Ein Trost, der inhaltlich nicht beruhigt, nichts überdeckt, nichts versüßt. Ein Trost, WEIL dieses Sprechen selbst gestört ist – weil die Verstörung, die der Verlust, der der Boden und Grund und die Aus-Schüttung meiner Klage ist, in ihm ihre Spuren gesetzt hat. So ist es ein Sprechen, das ich als in besonderem Maß als wahrhaftig – für diesen inneren Un-sprech-Zustand, als ihn spiegelnd, empfinden kann.

Eine Klage, die trauert und lebt. Sterben will und Zeugnis des Trotzes ist: Ich rege mich noch. Klage: begabt mit dem Weiter (der Plage-Gabe) des Lautgebens.

Der Verlust hat mich zerlegt. Ein Ich-vor, ein Ich-nach. Aus dieser Spaltung spreche ich als Ich, das spricht, wo ich-ander-ich verstummend bin (immer neu verstumme)