Kann es in Deutschland so gnadenlos zugehen wie in DeSantis’ Amerika?

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

In manchen Wochen beschäftigt sich das menschliche Hirn, meines jedenfalls, rätselhafterweise immer wieder mit denselben Menschen, und irgendwann klickt es und ich verstehe warum. Zwei Männer beschäftigten mich in den vergangenen Tagen, einer in Amerika und einer in Deutschland, und sie haben nichts miteinander zu tun, eigentlich, aber vielleicht ja doch. Denn der selbstverliebte Zyniker und der eisige Narziss sind Typen unserer Gegenwart, die Macht und Kraft haben, meist zerstörerische.

Der Gouverneur von Florida, der Republikaner Ron DeSantis, hält sich für einen kommenden Präsidenten und hat von einem früheren Präsidenten gelernt, wie man’s wird: Man sollte gegen Migration und Abtreibung wettern, gegen Medien, Wissenschaftler und den politischen Feind, die Demokraten, Joe Biden. All das erledigt DeSantis laut und schroff; Abgrenzung und Polarisierung motivieren und mobilisieren Wählerinnen und Wähler.

Darum spottet De Santis über Masken und Impfungen und schwärmt von der amerikanischen Freiheit, das eigene Leben zu gestalten. In Florida infizieren sich die Menschen noch immer und längst wieder in Rekordzahlen mit dem Coronavirus, und sie sterben in Rekordzahlen, während und weil ihr Gouverneur den Schulen seines Bundesstaates verbietet, das Tragen von Masken zu verlangen. „Freiheit“ kann halt auch die Freiheit meinen, dumm zu sein, jene Freiheit, keinerlei Sozialverhalten oder Teamgeist, keine ethischen Maßstäbe mehr zu haben.

Sie wird schließlich zur Freiheit, an Covid-19 zu sterben und die Pandemie zu verlängern, obwohl beides zu vermeiden wäre. Wir dürfen davon ausgehen, dass Ron DeSantis all dies weiß und die Todesfälle einkalkuliert, da es seiner Karriere hilft.

Sie streiken in der Delta-Welle, organisieren Chaos

Da wir soeben bei Teamgeist waren: Wer je in einer Mannschaft gespielt hat, hat gelernt, dass es Kitschquatsch ist, wenn Fußballer in die Kamera sagen, es sei ganz egal, wer von ihnen das Tor schieße – im wirklichen Athletenleben muss beides nebeneinander stehen, Egoismus und Altruismus.

Wenn ich den Ball haben will, um Spektakuläres, Siegbringendes damit anzufangen, und wenn ich zugleich meinen Platz kenne und meinen Nebenleuten vertraue, dann haben wir zusammen Freude, und siegen werden wir auch.

Damit zu Claus Weselsky. Das meiste, das ich über den Mann lese, ist mir egal: wie kurz seine Krawatte gebunden sei, wie schwitzig er rede. Egal ist’s, weil Person und Rolle zueinander passen. Ich fände es befremdlich, wenn deutsche Gewerkschaftsführer aussähen und redeten wie George Clooney.

Jedoch?

Jedoch: Wir alle erlernen seit 20 Monaten auf neue Art Disziplin und Solidarität, Empathie auch. Wir wissen inzwischen, dass wir ein Team sind: Schützen wir uns selbst, dann schützen wir einander; das höhere, gemeinsame Gut ist wichtiger als das individuelle, da dieses ohne das kollektive nicht mehr zu haben ist.

Und dann stapft Weselsky daher und hinter ihm die Lokführer der GdL. Sie streiken in der Delta-Welle, organisieren dort Chaos, wo es präventive Ordnung bräuchte, sorgen für wenige überfüllte Züge, wenn viele Züge halbvoll fahren müssten.

Schon klar, Weselsky redet von Gemeinsinn; das tun Streikende immer, und meistens wünsche ich ihnen Glück. Ein Gewerkschaftschef allerdings, der auf Angebote der Gegenseite spuckt und auf keinen Fall verhandelt und berauscht und lustvoll inmitten der Pandemie die Bahn lahmlegt, handelt nicht verantwortungsvoller als der Gouverneur, der Floridas Krankenhäuser füllt.

Die Frage, ob’s in Deutschland jemals so wahnhaft und gnadenlos wie in Trumps und DeSantis’ Amerika zugehen könne, höre ich oft. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich jemals antworten würde: Seht euch Claus Weselsky an.