Für immer jung und wild
„Wir sind die jungen Wilden!“ Susann Ziegler sagt das aus voller Überzeugung und ohne jeden Anflug von Ironie. Die Posaunistin, die seit 20 Jahren im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin spielt, meint damit den Geist, der in diesem Ensemble herrscht – wobei „jung“ und „wild“ für sie ganz unabhängig ist von dem konkreten Alter, das bei den einzelnen Mitgliedern im Personalausweis steht. „Die Identifikation mit dem Orchester ist sehr hoch bei uns“, schwärmt sie, „die Leute brennen für ihr DSO.“
Als Beispiel fällt ihr eine Aktion aus dem November 2020 ein, als sich die Türen der Konzertsäle zum zweiten Mal pandemiebedingt geschlossen hatten: Um im Lockdown dennoch Kontakt zum Publikum halten zu können, startete das DSO ein Musikfilmprojekt. Dabei wurden auch Sequenzen im Wald gedreht. „Es war wirklich kalt“, berichtet Susann Ziegler, „doch am Ende haben alle Blechbläser im Laub liegend gespielt.“ Auch die älteren Kollegen machten mit, die Stimmung war ausgelassen. „Da habe ich gedacht: Das ist mein Orchester!“
Neugier und Mut prägen die DNA des DSO
Von ihrer Position ganz hinten auf der Bühne kann Susann Ziegler das Geschehen ideal überblicken, bei den Proben wie auch bei den Auftritten. Denn sie sitzt genau in der Mitte des Podiums, Auge in Auge mit dem Dirigenten oder der Dirigentin. Und weil ihr Instrument im klassischen Repertoire oft über lange Phasen nicht zum Einsatz kommt, hat sie Zeit, ihre Kolleg:innen bei der Interaktion zu beobachten.
„Mut“, „Abenteuerlust“, „Neugier“, das sind Begriffe, die Suann Ziegler einfallen, wenn sie die DNA des DSO beschreiben soll. „Unsere Existenz war von Anfang an keine Selbstverständlichkeit“, sagt die Posaunistin, „wir waren Underdogs, mussten uns immer etwas einfallen lassen, um unsere Daseinsberechtigung zu untermauern.“ 1952, sechs Jahre nach der Gründung eines eigenen Orchesters für den „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, fiel der US-Schutzmacht auf, dass in ihrer Heimat kein einziges Orchester staatlich subventioniert wurde. Aus Gründen der Gerechtigkeit entließ man kurzerhand die Berliner Musiker. Sie bildeten eine GmbH und konnten nur überleben, weil sie sowohl der Rias als auch der SFB regelmäßig für Aufnahmeproduktionen buchte. Erst 1977 gelang es, das Radio- Symphonie-Orchester zu einer städtischen Institution zu machen.
Mit einer weiteren Umbenennung – diesmal in Deutsches Symphonie-Orchester – haben die Musiker:innen und ihr Management 1993 deutlich gemacht, dass sie sich nicht allein als Rundfunk-Klangkörper verstehen. Dass sie mehr sein möchten als ein Ensemble, das Zeitgenössisches sowie zu Unrecht vergessene Werke für seinen Sender einspielt und darüber hinaus auch noch ein paar Konzerte im eigenen Sendegebiet gibt. Im Idealfall, so das Kalkül bei der Namensgebung, wird das DSO als Repräsentant der gesamten Kulturnation angesehen.
Diese Sonderstellung innerhalb der 12 bundesrepublikanischen Rundfunkorchester genießen die DSO-Mitglieder durchaus. „Man kann uns nicht so gut einordnen. Das gibt uns wahnsinnig viel Freiheiten, die andere Orchester gar nicht haben“, findet Suann Ziegler. Und in der Tat hat sich ihr Ensemble immer wieder mit innovativen Konzertformaten hervorgetan, angefangen mit zwei Entdecker- Konzertreihen, die es seit 1959 gibt: „Musik der Gegenwart“ sowie das Nachwuchspräsentationsprogramm, das zunächst den Titel „Rias stellt vor“ hatte und heute „Debüt im Deutschlandradio“ heißt. In jüngerer Zeit kamen die „Casual Concerts“ dazu, moderierte Abende, bei denen die Hemmschwelle auch dadurch reduziert werden soll, dass die Musiker:innen Freizeitkleidung tragen. Äußerst erfolgreich ist auch der „Symphonic Mob“, bei dem die Profis einmal im Jahr in der Hall of Berlin zusammen mit mehreren Hundert Laien auftreten.
Kein typisches Rundfunkorchester
Die Sonderstellung des DSO hat allerdings auch eine heikle Seite, denn das Ensemble gehört ja zur ROC, der Rundfunkorchester und -chöre GmbH, in der nach der Wende vier Ensembles aus der DDR sowie West-Berlin zusammenfanden: der Rundfunkchor, der Rias Kammerchor, das DSO und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin (RSB). Und wie das innerhalb einer Familie so ist, schwelt im Untergrund stets ein Konkurrenzkampf, um (elterliche) Liebe wie (Taschen-)Geld. Susann Ziegler findet allerdings, der Konflikt würde eher „von außen“ geschürt. Sie betont lieber die Besonderheiten, die viel längere Geschichte des RSB beispielsweise. „Es war ja das erste Rundfunkorchester in Deutschland, wurde 1923 gegründet und hat schon in Weimarer Republik gespielt.“ Darum möchte sie auch nicht von einem Ost- und einem West-Orchester sprechen, sondern lieber von zwei Orchestern mit unterschiedlichen Entstehungsgeschichten.
Die „jungen Wilden“ vom DSO wurden dabei für viele Dirigenten auf ihren Karrierewegen zu prägenden Durchgangsstationen. Auf den legendären, viel zu früh verstorbenen Gründungschefdirigenten Ferenc Fricsay folgten Lorin Maazel und Riccardo Chailly, beide blutjung damals und später Megastars des Klassikbusiness. Zu verehrten Maestri entwickelten sich auch die vier Herren, die Susann Ziegler in den vergangenen 20 Jahren als Chefs erlebt hat. Kent Nagano fing 2000 gleichzeitig mit ihr an und löste mit seiner faszinierenden Mischung aus japanischer Verschlossenheit und amerikanischer Lässigkeit geradezu einen Hype aus. Bei einem Konzert im Tempodrom kam er auf einem Pferd zum Dirigentenpult geritten, gleichzeitig beeindruckte er an anderen Abenden durch Versenkung und Ernsthaftigkeit. „Ingo Metzmacher war dann das krasse Gegenteil“, erinnert sich Susann Ziegler. „Er wollte am liebsten gar nicht der Chef sein, sondern ein Teil vom Ensemble. Sein Ideal war, dass man Interpretationen gemeinsam erarbeitet.“
Extrem unterschiedliche Chefdirigenten
Als nächstes kam Tugan Sokhiev, der Klangmagier. „Das war ein Riesengeschenk fürs DSO“, schwärmt die Posaunistin. „Er dirigiert mit seinen Augen, ich hatte bei den Konzerten immer den Eindruck, man unterhält sich mit ihm, ohne Worte.“ Leider blieb auch er nur wenige Jahre, bevor er dann als Bolschoi Theater in Moskau wechselte. „Klar, ist es immer etwas mühsam, wenn jemand Neues kommt“, sagt Susann Ziegler, „denn es braucht ja immer seine Zeit, bis die Zusammenarbeit Früchte trägt. Aber es ist eben auch total belebend.“
Zumal es sich um so extrem unterschiedliche Persönlichkeiten handelt, wie im Fall der drei letzten DSO-Chefs. Und auch Robin Ticciati, der aktuelle musikalische Leiter passt in diese Kontrastdramaturgie. So verschlossen Tugan Sokhiev jenseits der Bühne war, so offensiv kommunikativ ist der Brite. „Robin hat geniale Ideen, denkt kreativ und will die Grenzen jedes Mal noch ein Stückchen weiter ausreizen“, beschreibt die Musikerin den 38-Jährigen, der nicht nur optisch an den jungen Simon Rattle erinnert.
Auf die Frage, wo das DSO jetzt, zu an seinem 75. Geburtstag, in der Berliner Orchesterlandschaft steht, antwortet Susann Ziegler: „Mittendrin!“ Und schiebt dann noch eine poetische Liebeserklärung hinterher: „Für mich ist das Orchester wie ein geschliffener Glasanhänger in einem Kronleuchter: Wenn Licht darauf fällt, schimmert er in allen Farben und die Strahlen werden mal dahin, mal dorthin gelenkt, es blitzt hier auf und dort, ganz ohne dass es sich kalkulieren lässt.“