Wasserspiele und Wirbelstürme: Die Jazzpianistin Marie Krüttli
Was ihr die Ehre eines Treffens verschafft habe, fragt sie, als wäre es das Absonderlichste der Welt, sich mit einer Pianistin zu verabreden, deren Namen im europäischen Jazz seit einigen Jahren einen Klang bekommen hat. Tatsächlich ist Marie Krüttli in ihrer Wahlheimat Berlin nicht besonders präsent. Sie ist in der Stadt untergetaucht, ohne sie wirklich erobern zu wollen.
Hin und wieder kann man sie sie im Donau 115 oder im Schlot hören – das Gros ihrer Auftritte findet in der Schweiz statt, wo sie 1991 im französischsprachigen Saint-Imier im Kanton Bern geboren wurde, oder im benachbarten Europa. Sie hat keinen Konzern und keine große Agentur im Rücken. Sie gehört weder zum Dunstkreis des Jazzinstituts noch im engeren Sinn zur einheimischen Szene.
Ich bin überall eine Außenseiterin, sagt sie, und damit man sie in einer jener Neuköllner Bars, in der weder die Kellner noch die Gäste Deutsch sprechen, überhaupt erkennt, hat sie eine knallrote Basecap aufgesetzt. Sichtbarkeit statt Tarnkappe: Das ist eher eine Sache ihrer musikalischen Persona, und die hat sie auf ihrem ersten Soloalbum „Transparence“ nun so überzeugend entwickelt wie nie zuvor.
Gedankenverloren und ungestüm
13 überwiegend kurze Stücke, von denen jedes einzelne Weite atmet – aufgenommen an einem langen Oktobertag im Klavierstudio der Gebrüder Bachmann in Wotzikon. Zarte Dissonanzen und versonnen ineinanderfließende Akkorde, gedankenverloren intonierte Themen und ungestüm wirbelnde Motive, verteilt auf sämtliche Register, oftmals aus einer bloßen Idee geboren und dann improvisierend ausgesponnen. Alles gleichermaßen sorgfältig artikuliert und bis auf die letzte Obertonnuance ausgehört.
Dazu Namen, die man wörtlich nehmen kann: „Espaces“ oder „L’Étendue“ definieren eine eigene Zeit und einen eigenen Raum, während „Dark Belly“ über einem tiefen Ostinato-Grollen ein Geflecht nervöser Linien entfaltet, ein „Flow of Irrational Thoughts“ Krüttlis assoziatives Temperament zum Vorschein bringt oder eine „Fugue“ die fugierten Stimmen allmählich aus dem Ruder laufen lässt.
Das Introspektive lässt sich vom Extravertierten so wenig trennen wie der impressionistische Einfluss von expressionistischen Strömungen. Maurice Ravels „Jeux d’eau“, sagt Marie Krüttli, seien für ihre Farben und Texturen so wichtig wie Igor Strawinskys rhythmische Ekstasen. Und da ist von Jazz noch gar nicht die Rede.
Ihre pianistischen Helden heißen generationsbedingt nicht mehr Paul Bley oder Masabumi Kikuchi, die dem bloßen Virtuosentum in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein dramatisches Rubato-Spiel entgegensetzten. Es sind allenfalls der junge Herbie Hancock oder heute Craig Taborn, der sich unter allen Jazzpianisten seiner Generation neben traditionelleren Projekten vielleicht am weitesten und prominentesten in die Grenzregionen von Improvisationsmusik und Neuer Musik vorgewagt hat, oder der Franzose Benoît Delbecq, mit dem sie schon im Duo aufgetreten ist.
Abstraktion und Schönheit
Marie Krüttli steht in ihrem Feld jedenfalls nicht alleine da. Mit der Slowenin Kaja Draksler, der Estin Kirke Karja oder dem Dänen Søren Kjærgaard gehört sie zu einer Generation, die alle herkömmlichen Muster des Jazz zu vermeiden sucht – dies allerdings, ohne jeden Begriff von Schönheit über den Haufen zu werfen. Wer sich auf YouTube anhört, wie sie Victor Youngs „Stella by Starlight“ in einige wenige Konturen auflöst und an den Rand der Erkennbarkeit treibt, bekommt einen Eindruck von der Entschlossenheit ihres Abstraktionsgeists – und der Fasslichkeit, die sie dabei behält.
„Transparence“ ragt auch deshalb aus der Masse pianistischer Soloaufnahmen heraus, weil sie zugänglich und widerständig zugleich ist: Man wird damit einfach nicht fertig. Nach drei Trioalben für das Eisenacher Label QFTF ihres Managers Marc Hagen Möller, 2019 zuletzt „The Kind of Happy One“, hat sie damit beim international renommierten Schweizer Label Intakt Records eine neue Heimat gefunden.
Die verführerische Sprödigkeit von „Transparence“ steht indes nur für die eine Seite ihrer Welt. Am anderen Ende findet sich eine Passion für Elektronisches, für Beats, HipHop und Synthie-Sounds, wie sie der bewunderte kalifornische DJ Flying Lotus mit Jazzversatzstücken produziert. Diese Seite kommt in Dragon Life zum Vorschein, ihrem sowohl als Duo mit dem Schlagzeuger Fabian Rösch wie als Sextett mit ihrem Bass spielenden Bruder Jérémie existierendem Projekt, das sie überdies als Sängerin präsentiert.
Wo sie das alles herhat? Nicht zuletzt von den Eltern, die beide klassische Musiker sind. Von einem Studium in Lausanne und Luzern, wo sie einem über sämtliche Stile gebietenden Lehrer wie dem aus Ungarn stammenden, auf Bühnen raren Emil Spányi einiges verdankt. Auch sie will sich nicht Abend für Abend verbrennen, sondern ihre Kräfte lieber für ausgewählte Konzerte aufsparen. Die Erschöpfung, die sie befällt, wenn es sie im konzentrierten Ideenfluss wieder einmal „in the zone“ getragen hat, ist groß genug. Wie schön, dass man nun auch mit „Transparence“ dorthin gelangt.