Die Würde der Angegriffenen

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Zu jedem Krieg gehört seine Sprache, meist eine enthemmende, zugleich entwertende. Als im bittereisigen Winter von 1932 die Brigaden der Kommunistischen Partei die Ukraine überrannten, verwüsteten, in Brand setzten, als sie dort Ukrainerinnen und Ukrainer vergewaltigten und erschossen und verhungern ließen, nannten sie die Opfer Saboteure und Klassenfeinde. Das Wort, das die ganze russische Verachtung zusammenfasste, war „Kulak“.

Ein Kulak, wörtlich „Faust“, war einst bloß ein wohlhabender Bauer gewesen. Unter Lenin und Stalin wurde daraus ein Schmarotzer und Feind des Proletariats, verachtenswert, nicht lebensberechtigt. Die „Entkulakisierung“ der Ukraine und folglich die „Kulakenoperation“ wurden erfunden.

Milde? Mitgefühl? Mit wem denn, einem Kulak?

Getreide für das sozialistische Vaterland

Der Schriftsteller Lew Kopelew, der in jenen jungen Jahren in der Ukraine mitmarschierte, sagte es später so: „Ich habe mich selbst überzeugt: Ich darf nicht in lähmendes Mitleid verfallen. Wir sahen eine historische Notwendigkeit. Wir erfüllten unsere revolutionäre Pflicht. Wir beschafften Getreide für das sozialistische Vaterland. Für den Fünfjahresplan.“

Die Ukraine von heute ist in der Sprache Moskaus kein Staat, bloß eine Stück Land ohne Kultur, der Südwesten Russlands zwar, doch „vollkommen ferngesteuert von außen“ (Wladimir Putin) und von Nichtsnutzen regiert, wahlweise von Marionetten des Westens und/oder Nazis.

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Es gab nach 1932/33 kein Bedauern und keine Entschuldigung, beides wird es auch diesmal nicht geben. Die Sprache des Krieges wirkt autosuggestiv: Die Ukrainer seien keine Menschen gewesen, sondern Kulakmüll, das hätten die Russen sich damals gesagt; „sie sind keine Menschen, sondern ukrainische Nazis, das sagen sie sich heute“, schreibt die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Applebaum.

Die Entwürdigung der Opfer soll dem Täter die Tat erleichtern. Wolodymyr Selenskyj aber stellt sich nicht nur militärisch und politisch der Invasion entgegen. Er sagt immer auch dies: Wir sind Menschen, ein Volk, eine Nation, wir wollen in Würde leben.

Und so tritt er auf: würdevoll.

Werte, nach denen wir uns sehnen

Churchill sagte: „Von allen Talenten, die den Menschen geschenkt werden, ist keine andere so wertvoll wie die Gabe der Redekunst. Wer sich daran erfreut, übt eine Macht aus, die dauerhafter ist als jene eines großen Königs.“ Churchill nutzte das Radio, Selenskyj, in Olivgrün und mit gut trainierten Oberarmen, nutzt ein Smartphone.

„Ya tut“, sagt er, und das würde schon genügen: „Ich bin hier.“ Aber er erzählt Geschichten, appelliert, mahnt, fordert, dankt; wir erleben den Präsidenten der Ukraine denkend, leidend, bereuend, entscheidend, hadernd, lachend.

Bret Stephens schrieb in der „New York Times“, dass Selenskyi mit seiner strategischen Klugheit zwei jüdische Archetypen verkörpere: David im Angesicht Goliaths und Moses im Angesicht des Pharaos. „Wir bewundern ihn“, so Stephens, „weil er zeigt, was ein Mann sein sollte: beeindruckend, ohne imposant zu sein; selbstbewusst, ohne arrogant zu sein; intelligent, ohne vorzugeben, unfehlbar zu sein; aufrichtig statt zynisch; mutig, nicht weil er furchtlos ist, sondern weil er mit gutem Gewissen vorangeht.“

Und weil er zeige, dass Vaterlandsliebe noch eine Tugend sei. Weil er die Kraft des persönlichen Beispiels und der physischen Präsenz erfasse. Weil er wisse, wie sehr Worte Taten inspirieren könnten, so dass wiederum die Taten die Bedeutung der Worte bestätigen können. Weil Wolodymyr Selenskyi uns mit all dem daran erinnere, wie selten diese Eigenschaften bei unseren eigenen Politikern geworden seien.