Die Stunde der Whistleblower

Neulich waren wir langsam. Bei einer Wettfahrt segelten wir mehrsprachig, ohne zuvor zusammen trainiert zu haben – und als ein Deutscher auf Englisch „ease“ sagte, da die Segel nach einem Winddreher geöffnet werden mussten, holte ein Franzose das Vorsegel stattdessen dicht, und wir blieben stehen.

In perfekt funktionierenden Sportteams funktioniert zuallererst die Sprache. Jedes Teammitglied kennt die eigene Rolle, auch Freiheiten sind besprochen. Sprache definiert die Strategie, sorgt für taktische Klarheit: Ein, zwei Wörter genügen, und zwei, drei wesentliche und sieben, acht unterstützende Handlungen folgen wie automatisiert. „Halse in drei… zwei… eins… Halse.“ Der Rest ist schweigendes Tun.

Was in den besten Teams nicht vorkommt, sind vage Sätze, Mehrdeutigkeiten. „Jemand müsste irgendwann mal die Fenster putzen.“ So redet manche Familie, falls sie noch redet. Wer macht wann was? Hands-on, das ist die Mentalität von Sportteams, da Probleme nicht zerredet, sondern gelöst werden müssen. Nach dem Wettkampf gibt es eine Analyse und vorher gab es einen Plan. Ergebnis und Tabelle lügen ohnehin hin: Da sind keine zwei Wirklichkeiten.

[Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Zuvor war er unter anderem Chefredakteur des „Spiegel“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.]

Diese, die permanenten zwei Wirklichkeiten, sind eine wesentliche Schwäche der komplexen Welt jenseits des Sports geworden, und dieses Problem wird größer. Etwas ist kristallklar wahr, eigentlich. Dennoch wird sein Gegenteil behauptet, und jene Behauptung findet ihr Megafon, findet Glaubende, und obwohl es gerade eine Wahrheit gab, sind es nun zwei Wahrheiten, These und Antithese, und Handlungen werden zaghaft oder unmöglich.

Deswegen liebe ich die Stunden der Whistleblower und der alles verändernden Zeuginnen so sehr. Soeben war Nebel, bis vor kurzem war Lärm – plötzlich ist Klarheit.

Von Mark Felt über Daniel Ellsberg bis Edward Snowden

Edward Snowden verschaffte uns diese Eindeutigkeit mit seinen Beschreibungen moderner Spionage; Frances Haugen beschrieb uns Facebooks Skrupellosigkeiten; Mark Felt, lange her, enthüllte Watergate (und blieb anonym), Daniel Ellsberg die Lügen über den Vietnamkrieg.

Cassidy Hutchinson wuchs in Pennington, New Jersey, auf, studierte Politikwissenschaften, machte in Washington Praktika bei Ted Cruz und Steve Scalise, dann im Weißen Haus. Als Mark Meadows Stabschef in der Regierung von Donald Trump wurde, beförderte er Hutchinson zu seiner Assistentin, dann zur „Sonderassistentin des Präsidenten für gesetzgebende Angelegenheiten“. So wurde Cassidy Hutchinson, zuhörend und fleißig, eine jene interns, die unsere Hauptstädte in Gang halten, unterbezahlt, lernend im Zentrum der Macht.

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Hutchinson ist Republikanerin, traute sich dennoch, dann berichtete sie.

Donald Trump wusste also, dass die Horden, die am 6. Januar 2021 in Washington demonstrierten, das Kapitol stürmen wollten, um einen demokratischen Machtwechsel zu verhindern. Er wusste, dass sie bewaffnet waren, wusste, dass sie seinen Vizepräsidenten Mike Pence hängen und ermorden wollten. Er fand all das richtig und beförderte es, tat nichts, das die Gewalt hätte verhindern können. Rund um das Regierungsviertel standen Detektoren, Magnetometer oder „mags“ genannt, damit Waffen beschlagnahmt werden könnten; Trump schimpfte: „They’re not here to hurt me. Take the fucking mags away.“

Vor den Anhörungen im amerikanischen Kongress hatte ich gedacht, sie seien sinnlos – die USA sollten nicht länger über die Vergangenheit streiten, sondern über den künftigen Schutz ihrer Demokratie debattieren. Doch nein, das eine bedingt das andere, denn Trump bereitet seine Kandidatur für 2024 vor. Cassidy Hutchinson, 25 Jahre alt, anfangs nervös, dann ruhig und sicher, sagte, was war. Und Amerika hielt inne und hörte zu.