Das Musical „Chicago“am Berliner Schillertheater: Hokuspokus, virtuos
Die Show ist keine zwei Minuten alt, da erreicht sie schon ihren Höhepunkt. Ruth Brauer-Kvam hat gerade begonnen, die Macht des Jazz zu beschwören, als ihr plötzlich Flügel wachsen: Acht Paar, in leuchtendem Rot-Orangen, gefügt aus flaumig-flatternden Straußenfedern – und mit Beinen unten dran.
Die gehören Tänzerinnen und Tänzern, die ihre Protagonistin während der gesamten Nummer leichtfüßig umschwirren werden, befeuert von der fantastischen Fantasie des Choreografen Otto Pichler. Immer wieder versinkt Ruth Bauer-Kvam in einem Meer aus Federn, als würde sie von einer sichtbar gewordenen Duftwolke eingehüllt.
Dazu blinkt und glitzert der weite Bühnenraum des Schillertheaters auf eine derart mondäne, überwältigende, metropolenwürdige Weise, dass die Kollegen vom Friedrichstadt-Palast vor Neid erblassen könnten. „Broadway, Made in Berlin“ nennt Barrie Kosky die Musicalproduktionen, die er seit 2008 an der Komischen Oper herausbringt. Shows, die dank des deutschen Kulturfinanzierungssystems personell üppiger ausgestattet sind als alles, was man in New York und London erleben kann.
In der Eröffnungsszene aus „Chicago“, bei dieser ersten Premiere im Exil-Quartier der Komischen Oper, erlebt das Schillertheater den ultimativen Glamour-Moment. 6500 Lampen erstrahlen in Michael Levines Bühnenbild, zappeln enthemmt wie die vom Beat durchpulste Meute in einem Hauptstadt-Club, treten in Formation an wie Paare beim Turniertanz und drehen optische Pirouetten wie eine perfekt gedrillte Ballett-Kompanie. Mehr Blendwerk geht nicht.
Werden die Glitzer-Glühbirnen aber ausgeknipst, herrscht Knast-Tristesse: Die Gitterstruktur, auf der die Leuchten verkabelt sind, sperrt die Mörderinnen im Cook County Gefängnis ein. Draußen sind die Reporter und Klatschkolumnistinnen, die mit positiver Berichterstattung dafür sorgen können, dass die Geschworenen zum Freispruch neigen. Und zwischen den beiden Welten bewegt sich der Anwalt Billy Flynn, der noch keinen Fall verloren hat. Weil er weiß, wie die Aufmerksamkeitsökonomie der modernen Mediengesellschaft funktioniert.
„Chicago“ ist ein zynisches Musical, das bei seiner Uraufführung 1975 visionär war und seitdem immer aktueller wird. Textdichter Fred Ebb entwirft lauter egomanische Selbstdarsteller – und Komponist John Kander legt ihnen ohrschmeichlerische Broadwaymelodien in den lästerlichen Mund. Bei Adam Benzwi sind die jetzt in besten Händen. Mit dem Alleskönner-Orchester der Komische Oper zelebriert er lustvoll den Stilmix dieser absichtsvoll altmodischen Vaudeville-Partitur vom Tango bis zum Ragtime.
Die singende Schauspielerin Ruth Brauer-Kvam gibt der Velma Kelly Klasse und Persönlichkeit, Katherine Mehrling dagegen kann sich als Roxy Hart auf ihren Status als Berliner Publikumsliebling verlassen. Grundgemütlich spielt Andreja Schneider die Gefängnis-Chefin, schattenhaft streift Ivan Tursic als Mr Cellophane durch die Kulissen.
Zum Star des Abends aber wird der einzige Mann zwischen den vielen starken Frauen: Jörn-Felix Alts Billy Flynn ist ein skrupelloser Charmebolzen, ein geschmeidiger Rechtsverdreher, der es in Sachen Erotik lässig mit den von Otto Pichler so unnachahmlich kess choreografierten Tänzerinnen und Tänzern aufnehmen kann.
Allein der Anteil von Barrie Kosky am Gelingen dieses umjubelten Abends bleibt etwas nebulös: Sicher, er ist der Vater der tollen Truppe, sorgt für einen reibungslosen Ablauf des schwarzhumorigen Vergnügens. Doch die einzigen Regieeinfälle, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben, sind zugleich jene Elemente der Inszenierung, die am meisten nerven. Der fußlahme Running Gag mit dem trompetenartigen Taschentuch-Geschnäuze von Amos Hart. Und die Degradierung seiner Roxy zur Knallcharge, die vom Gören-Gehabe bis zum türkischen Macker-Akzent keinen flauen Kalauer liegen lassen darf.