Zum Tod von Jerry Lee Lewis: Der „Killer“ mit der Teufelsmusik
Jetzt hat es den Killer also erwischt. Ihn, der soviel überlebte, soviel aushielt, vor allem soviel anstellte. Mit 87 Jahren starb am Freitag Jerry Lee Lewis, Pianist, Rock’n’Roller, gottesfürchtiger Ur-Punk, notorischer Missbrauchstäter. Und der letzte weiße „Mad Man“ der alten Garde.
„Killer“ nannte man den 1935 im Bible-Belt-Kaff Ferriday in Louisiana Geborenen angeblich schon seit der High School – er hatte sich, so will es eine Mär, mit einem Lehrer angelegt, und versucht, ihn mit dessen Krawatte zu erwürgen. Aufbrausend und leidenschaftlich war er, und hochbegabt: Um ihrem musikalischen Jungen ein Klavier kaufen zu können, nahmen seine Eltern eine Hypothek auf ihren Hof auf. Lewis begann ein Studium an einer christlichen Universität – und flog kurz darauf herunter, weil er eine Hymne mit Boogie-Woogie-Rhythmen begleitet hatte.
In den 50er Jahren spielte er als Studiopianist für das in Memphis ansässige „Sun Records“-Labels, das von Schwarzen angeeigneten Rhythm and Blues über weiße Musiker an Weiße verkaufte. 1956 entstand so auch eine Jam Session mit Elvis Presley, der von dem „new kid on the block“ gehört hatte.
Ab 1957 veröffentlichte Lewis als Solokünstler, auf dem von Dave „Curlee“ Williams geschriebenen „Whole Lotta Shakin‘ Goin On“ findet sich bereits sämtliche Killer-Markenzeichen: Rhythmisch perfekt und in absurd schnellem Tempo hackt Lewis in die Tasten, gurrt Anzügliches, kickt ekstatisch den Hocker von der Bühne, und lässt die blonde Lockentolle fliegen. Teilweise im Stehen zu spielen, das unbewegliche Instrument wie einen Sparringpartner mit Händen, Füßen, Ellenbogen und Hintern zu bearbeiten, hatte er sich von Rock’n’Roll-Urvätern wie Little Richard abgeschaut. Auch „Great Balls of Fire“ und „Breathless“ schlugen in die gleiche, triebhafte Kerbe.
Lewis’ Mix aus überbordendem Talent und einem ebensolchen Selbstbewusstsein machten ihn zum Star – dessen Erfolg im Jahr 1958 abrupt und unter sensationslustiger Genugtuung der Öffentlichkeit bröckelte, als ein Journalist Recherchen zu Lewis’ Privatleben veröffentlichte: Der Killer hatte nicht nur zweimal geheiratet, ohne die vorherigen Scheidungen abzuwarten, was ihn zum Bigamisten machte.
Seine dritte (von insgesamt sechs) Ehefrau Myra Gale Brown war zudem seine Cousine – und zum Zeitpunkt der Ehe 1957 erst 13 Jahre alt (angegeben hatte sie 15). Dass seine sexuelle Beziehung mit einem Kind ein Verbrechen darstellte, hat Lewis nie eingesehen: In Ethan Coens 2022 erschienenen Dokumentarfilm „Jerry Lee Lewis: Trouble in Mind“ hört man ihn auf die Frage danach in einem Fernsehinterview süffisant korrigieren, sie sei nicht 15 gewesen, sondern 13. Myra Gale selbst begegnet der Sache im Film mit Pragmatismus.
Nach dem Skandal, der das Raubtier-Image des Künstlers festigte, und auch mit dem Aufkommen modernerer (Beat-)Musikhelden geriet Lewis’ Karriere ins Stocken, in Europa etwas langsamer als in den USA. Bei einem Hamburg-Konzert 1964, ausgerechnet im von den Beatles geprägten Star Club, erlebt man noch seine wütende Energie: Die Begleitband vermag ihm kaum zu folgen. „Jerry Lee Lewis schlachtet seine Rivalen in einem 13-Song-Set, das sich anfühlt wie eine einzige, lange Konvulsion“ schrieb der „Rolling Stone“.
Ende der 60er Jahre wandte sich Lewis wegen zu geringer Erfolge – und wohl auch aufgrund seines mittlerweile zu hohen Alters im Teenie-Verkaufssegment – dem Country zu, und veröffentlichte bis in die 70er erfolgreich von langsamen Beats und schmalzigen Texten geprägte Country-Platten.
Erst mit den Revival-Touren der Rock’n’Roll-Originale wie Chuck Berry, Carl Perkins oder Roy Orbison und der Nostalgie meist älterer Fans in den 80ern gab er sich wieder der „Teufelsmusik“ hin, spielte weiterhin Country Songs, und immer mehr Gospel.
Der Tod (er verlor einen Bruder und zwei seiner sechs Kinder durch Unfälle, zwei seiner Ehefrauen starben früh und teilweise unter ungeklärten Umständen) und eigene Dämonen begleiteten ihn genau wie Drogen, Alkohol und Brutalität – immer wieder gab es Gerüchte und Anklagen wegen häuslicher Gewalt.
Wie getrieben er am subjektiv empfundenen Abgrund zwischen den „guten“, christlichen Gedanken, und der geliebten „bösen“, teuflischen Rock’n’Roll Musik balancierte, wird im Coen-Film ebenfalls deutlich: Coen hat einen O-Ton aus einer Aufnahmesession bei Sun Records in den 50ern aufgetrieben, in dem man Lewis im Gespräch mit Sun-Gründer Sam Phillips hört. „Ich mache Teufelsmusik“, klagt Lewis erregt, „meine Seele kommt in die Hölle!“ Jetzt kann er herausfinden, ob seine Befürchtungen wahr werden.
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