Aufzeichnungen aus einem Erdloch
Wie man ein Leben und seine Zeit erzählt, ist immer wieder von Neuem tektonischen Verschiebungen unterworfen. Die Geschichte der Volksrepublik China, in der Ai Weiwei 1957 zur Welt kam, lässt sich unterteilen in die ersten 30 Jahre nach der Gründung 1949, Jahre bitterer Hungersnöte und grausamer politischer Kämpfe, und die mittlerweile 40, in denen sich das Land nach dem Tod Mao Zedongs öffnete und seinen beispiellosen Aufstieg zur ökonomischen Weltmacht vollzog.
Ais persönliche Geschichte wiederum hat ihren Wendepunkt in jenen 81 Tagen, in denen ihn die Staatssicherheit 2011 auf dem Gelände seines Ateliers in Caochangdi im Nordosten Pekings entführte und in ein geheimes Gefängnis verschleppte.
Was den endgültigen Abschied von seinem Land einleitete, weitete ihm zugleich den Blick auf das gesamte chinesische Jahrhundert und eine Vergangenheit, die ihm lange so fremd geblieben war wie der eigene Vater. Ai Weiwei hatte zusammen mit der Filmcutterin Wang Fen mittlerweile selbst einen Sohn, Ai Lao, und die Haft und die täglichen Verhöre brachten ihn dazu, sein Schicksal als Fortsetzung der Verfolgung zu verstehen, die sein Vater erdulden musste.
Der berühmte Dichter Ai Qing, 1910 in der Provinz Zhejiang geboren, saß erst als Kommunist unter Chiang Kai-sheks nationalistischer Guomindang-Regierung im Gefängnis; später, 1957, wurde er nach sanfter Kritik an Maos „Hundert-Blumen-Bewegung“ als Rechtsabweichler in die Verbannung geschickt und mit Publikationsverbit belegt. Erst 1979 wurde er rehabilitiert.
Halb Geschichtschronik, halb Vaterbuch
Wie sich all diese Zeitschichten in Ai Weiweis Erinnerungen „1000 Jahre Freud und Leid“ überlappen und das Persönliche dem Historischen Stichworte liefert und umgekehrt, ist ein einzigartiges Zeugnis. Halb reich verästelte Chronik eines Landes, das mit der Qing-Dynastie das Kaiserreich hinter sich ließ und nach zahllosen inneren und äußeren Konflikten auf seine Variante des Kommunismus zusteuerte. Halb Vaterbuch, und das gleich doppelt: als ein Stück nachträglicher Gerechtigkeit für den 1996 gestorbenen Ai Qing und als Liebeserklärung und Auftrag an Ai Lao: „Seine Zustimmung wird der letzte Maßstab dafür sein, ob sich meine Bemühungen ausgezahlt haben.“
[Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Elke Link. Penguin Verlag, München 2021. 416 Seiten, 38 €.]
Man folgt den oft beklemmenden Geschehnissen mit angehaltenem Atem. Und man erfährt nuancierter als je zuvor, was den oft allzu plakativen, in pure Masse und Größe verliebten Aktionskünstler Ai Weiwei zu dem gemacht hat, der er ist. Er spricht von universalen Erfahrungen, doch wenn er sich etwa für die Flüchtlinge auf Lesbos einsetzt, dann schlägt in ihm nicht das schlechte Gewissen eines verwöhnten Westlers.
In ihm erwacht das viel urtümlichere Ethos des Zehnjährigen, der den Vater während der Kulturrevolution 14 Monate an den finstersten Ort der Umerziehung begleitete: ein Erdloch in einer zu Recht Klein-Sibirien genannten Region von Xinjiang am Rand der Wüste Gurbantünggüt, wo Ai Qing schließlich Latrinen putzen musste. Er tat es – Ai Weiwei schildert die Umstände schmerzhaft genau – mit bewundernswertem Stoizismus.
Mut und Zähigkeit
Diese Passagen gehören zu den bewegendsten des Buches, weil sie erklären, woher Ai Weiweis Zähigkeit, Willenskraft und Mut kommen. Eine ganz und gar nicht beneidenswerte Abhärtung der Seele, die ihn wohl auch befähigte, die inquisitorischen Monate in seinem Pekinger Stasi-Gefängnis als Bewährungsprobe anzusehen, die ihn nicht zerbrechen konnte: Wie er überdies seinerseits die eigenen Wächter in ein Gespräch zu verwickeln suchte, war vielleicht bloßer Instinkt, half ihm in der Isolation aber nicht weniger.
Die Szenen aus Xinjiang erklären aber auch, woraus sich Ais Weiweis störrischer Widerstandsgeist speist, an dessen Unberechenbarkeit bisher noch jedes seiner Exilländer gescheitert ist: Auch in Berlin, wo er von 2015 an vier Jahre lang lebte, wollte er kein dankbarer Muster-Dissident sein. Nach einem Zwischenaufenthalt in England hat er neuerdings in Portugal ein neues Zuhause gefunden.
Ais Installationen und Filme, deren Genese und Verbreitung in aller Welt sich hier auch nachlesen lässt, waren immer kollektive Unternehmungen. Ohne sein Team hätte er sie nicht zustande gebracht. Das ist, und er macht daraus kein Hehl, bei „1000 Jahre Freud und Leid“ nicht anders – auch wenn sich die einzelnen Schichten dieses packenden, mit eigenen Zeichnungen illustrierten Memoirs kaum mehr entwirren lassen.
Einen Teil hat Ai Weiwei offenbar auf Band gesprochen, einen Teil geschrieben. Zur zuverlässig recherchierten historischen Informationsdichte haben aber wohl andere beigetragen – und zur dramaturgischen Gestaltung des englischen Originals, das nun in 14 Sprachen gleichzeitig übersetzt worden ist, mindestens vier Lektorinnen in zwei Stufen. Überzeugend ist, dass dennoch ein hochgradig persönliches Buch entstanden ist, in dem man jederzeit Ai Weiweis Stimme zu hören meint.
Wo er sich selbst erinnern kann, etwa an seine 13 prägenden Jahre in den USA, ist das bestes dokumentarisches Handwerk im Zusammenspiel aller Kräfte: auch ohne literarischen Ehrgeiz flüssig und elegant geschrieben, mit einer Vielzahl pointierter Beobachtungen und überraschender Bemerkungen.
Gedichte als Lebenszeugnisse
Mindestens so interessant ist, dass ausgerechnet das, was dem Buch im ersten Drittel seine Wucht verleiht, die Würdigung des Vaters, weitgehend außerhalb des eigenen Erinnerungsvermögens liegt. Es setzt sich zusammen aus erzählerisch geschickt animierten chinesischen Studien sowie Ai Qings ausführlich zitierten und interpretierten Gedichten, deren Direktheit der Sohn als authentische Lebensauskünfte heranzieht: Eine schöne Auswahl der Poesie ist, übersetzt und hilfreich kommentiert von Susanne Hornfeck, parallel in einem eigenen Band bei Penguin erschienen: „Schnee fällt auf Chinas Erde“. Nichtsdestoweniger sind die latent fiktionalen Anteile da am höchsten, wo er dem Vater am nächsten zu kommen versucht.
Es ist nicht so, dass Ai Weiweis Herkunft zuvor im Dunkeln lag. Aber er leuchtet hier in Ecken, die zumindest westlichen Leserinnen und Lesern unbekannt waren. So wird, ohne dass er ihm jemals begegnet wäre, auch der Großvater lebendig. In seinem Dorf, in dem er einen Laden für Sojasoße und einen Laden mit Importwaren betrieb, galt er als gebildeter, ja verwegen fortschrittlicher Mann. Er las Zeitungen und Bücher, schnitt sich früh den Zopf ab, der als Zeichen der hanchinesischen Unterwerfung unter die Mandschu galt und zwang die Frauen seiner Familie nicht mehr, sich die Füße zu binden.
Erinnern, um zu vergessen
Ai Qing, der 1929 für eine Weile nach Paris ging, um dort zu studieren, hatte also die besten Voraussetzungen, eine kosmopolitische Haltung zu entwickeln. Er begeisterte sich für Wladimir Majakowski und Walt Whitman, mit dem Chilenen Pablo Neruda verband ihn sogar eine Freundschaft. Aus einem Gedicht Ai Qings stammt auch der Titel des Buchs: „Von tausend Jahren Freud und Leid / blieb keine Spur zurück. // Ihr, die ihr lebt, lebt in der Fülle, / hofft nicht, dass die Erde Erinnerungen bewahrt.“
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Ai Weiwei antwortet darauf mit einer Anstrengung, die sich selbst überflüssig machen will. Er hat niedergeschrieben, „woran ich mich lieber nicht erinnert hätte, denn diese Erinnerungen sind es, die mir helfen zu vergessen.“ Er will schon deshalb nicht das letzte Wort haben, weil er nicht das letzte Wort haben kann. „Meine Vergangenheit und meine Gegenwart“, schreibt er, „haben sich voneinander gelöst, wie das Skelett eines toten Tiers, dessen Knochen längst nicht mehr von Gewebe zusammengehalten werden, und mir fällt es trotz größter Bemühungen immer noch schwer, die Gesamtheit meiner Erfahrungen darzustellen.“
Wozu auch? Andere wie sein Sohn Ai Lao werden, so wenig sie enthalten, „was allein mir gehört“, das Ihre dazu beitragen. Nun gehören diese Erinnerungen auch uns, und es wäre mehr als ein Versäumnis, wenn wir sie nicht auf unsere Art weitererzählen würden.
Die einzige deutsche Publikumsveranstaltung mit Ai Weiwei findet am Donnerstag, den 25. November, um 19.30 Uhr im Berliner Ensemble statt. Zusammen mit den Schriftsteller Daniel Kehlmann blickt er auf entscheidende Stationen seines Lebens. Aus „1000 Jahre Freud und Leid“ liest das BE-Ensemblemitglied Veit Schubert.