Der machtlose Souverän

Als das World Trade Center Ziel des Terrors wurde, war Wolfgang Schivelbusch gerade in Berlin. Wären die Zwillingstürme zur Seite gekippt, anstatt in sich zusammenzufallen, sie hätten auf sein New Yorker Wohnhochhaus fallen können. Das erwähnte der Denker zwei Jahre darauf in einem dctp-Gespräch mit Alexander Kluge. Mit dem elften September 2001, sagte Schivelbusch damals, habe der globale Bedeutungsverlust westlicher Demokratien begonnen, und ebenso die Globalisierung der Südhemisphäre. „Die Landguerilla hat die Städte erreicht“, konstatierte er, so sei es einst doch schon oft im „Kursbuch“ prophezeit worden.

Seit 1976 lebte der produktive Autor abwechselnd im Stadtteil Tribeca von Manhattan, dem „Triangle Below Canal Street“ und in Berlin. Dorthin zog er 2014 vollends zurück, und ist hier seit 2020 Senior Fellow des ZfL, des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. In Berlin, wo Schivelbusch 1941 zur Welt kam, feiert er am 27. November seinen 80. Geburtstag.

Weder der Schrecken von 9/11 noch die Ära Trump hatten ihn zum buchstäblichen Rückzug bewegt, sondern die „Touristifizierung“ des New Yorker Viertels, wo er als junger Mann ein günstiges Apartment auf einer 25. Etage ergattert hatte, mit jenem sagenhaften Blick vom Balkon, von dem er in seinem aktuellen Buch schwärmt. „Die andere Seite“ ist so etwas wie ein Reiseführer durch Schivelbuschs intellektuelle Biografie, durch seine ganze transatlantische Denklandschaft, samt Durchdrungenem, Geistesblitzen und Widersprüchen. Entstanden ist der Dialogband unter anderem im Gespräch mit Stephan Speicher.

[Wolfgang Schivelbusch: Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.]

336 Seiten, 26 € Der Blick vom Balkon scheint typisch für Schivelbusch, der keine akademische Karriere machte, sondern als analytischer Zaungast die Gelände einzelner Fächer überblicken und Kontexte über Fachgrenzen hinweg entwickeln konnte, der Kulturwissenschaftler wurde, noch ehe das Fach existierte.

Bei Adorno hatte Schivelbusch Vorlesungen gehört, bei Peter Szondi in Berlin das komparatistische Denken gelernt, bei Hans Mayer über das sozialistische Drama nach Brecht promoviert.

Antrag auf Habilitation abgewiesen

Sein Antrag auf Habilitation wurde abgewiesen, es sei keine Voraussetzung zu erkennen für eine „strukturierte wissenschaftliche Untersuchung“. Diese persönliche Niederlage wendete der Experte für Niederlagen um zu seinem Privileg. Über seine „machtlose Souveränität“ freut er sich im neuen Buch, und bekennt, lehren habe er ohnehin nie wollen.

Schivelbuschs Sache ist das Fragen und Spurensuchen als Pionier. Es begann 1977 mit der „Geschichte der Eisenbahnreise – Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“, seiner ersten „Materialgeschichte“. In Europa entstanden separate Zugabteile nach dem Vorbild der Kutsche, in Amerika aber Großraumwagen nach dem Vorbild der großen Dampfschiffe aus Seen und Kanälen. Fahren ist Erfahrung, Fahrzeuge sagen etwas aus über Gesellschaften. Erfindungen, Gegenstände verändern das Leben, ja. Und wie, inwiefern, wo?

Es folgte eine Studie über künstliche Beleuchtung, mit der die Nacht zum Tag gemacht werden konnte, was den Kaffeekonsum verstärkte. Solchen Genussmitteln hatte Schivelbusch, der Archive und Bibliotheken liebt, 1980 seine Studie „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ gewidmet.

Seine Hinwendung zu stärker politisierten, zeithistorischen Betrachtungen setzte 2001 ein mit „Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918“. Zwei Jahre später erschien die komparatistische Arbeit in den USA unter dem anschaulicheren Titel „The Culture of Defeat. On National Trauma, Mourning and Recovery“. Passend wäre auch „Dialektik der Niederlage” gewesen, denn Schivelbusch, den schon als Schüler die Antike fasziniert hatte, die Kämpfe um Troja und Karthago, untersucht die komplexe kognitive und psychische Dynamik der Besiegten voller Wechselwirkungen.

Mimikry mit den Siegern

Sieger werden zwar verdammt und dämonisiert, aber auch strategisch in „Mimikry mit dem Sieger“ kopiert. So schaute Frankreich etwa nach 1871 wissbegierig auf Preußens Berliner Universität, die es als „Kaderschmiede“ deutscher „Revanche gegen Napoleon“ identifizierte. Besiegte verkehren Verluste in Triumphe, wie mit der Sentenz „Im Felde unbesiegt“ oder der Heroisierung von Opfermythen. Häufig werde die Vergangenheit verklärt, so Schivelbusch. Restauration, Reaktion und Konservatismus beriefen sich dann auf ein Goldenes Zeitalter, das es nie gab. Doch sei auch die Fantasie des Fortschrittsdenkens nichts anderes, als ein „ins Futur versetztes Goldenes Zeitalter der Vergangenheit“.

Mit solcher Dialektik beschäftigt sich Schivelbusch am ZfL, wo er sein Forschungsprojekt „Erlösung im Zurück“ getauft hat, auch „vor dem Hintergrund der gegenwärtigen populistischen Romantik, die ihrerseits eine Reaktion auf die als Bedrohung empfundene Globalisierung und Digitalisierung darstellt.“ Von solcher Romantik ist Schivelbusch selber nicht frei, wenn er den Wandel der „linksliberalen Eliten“ kritisiert, die heute unter anderem mit politisch korrekten „Ungetümen“ in der Sprache „queere Randgruppen“ hofiert, und dabei die Arbeiterklasse links liegen lässt, was sie den Rechten überlässt.

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Lust am Reaktionären

Mit Ingrimm verfolgte der Transatlantiker, wie der Siegeszug des Populisten Trump diesen Trends die Quittung ausstellte, und räumt heute ketzerisch „eine gewisse Lust am Reaktionären“ ein. Die war ihm bereits unterstellt worden, als der universelle Komparatist für viele zu weit gegangen war, indem er 2005 mit seinem Buch „Entfernte Verwandtschaft“ ziemlich gewagte Linien zog zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Roosevelts New Deal von 1933 bis 1939. Dabei wollten ihm zu seinem Verdruss, und insbesondere in den USA, vor allem rechte Revisionisten folgen, denen Roosevelts sozial erfolgreiche Politik seit je ein Dorn im Auge war.

Gleichwohl, mit seinen Hinweisen auf die „Kosten der Aufklärung“, auf menschliche Entfremdung durch Standardisierung und Mechanisierung, ist Wolfgang Schivelbusch keineswegs allein, weder in der Gegenwart, noch im Damals, wo er Parallelen dazu bei Marx und Freud findet. Darin allerdings, dass eine „rechte Revolte“ angesichts überhöhter utopischer Forderungen des Universalismus notwendig sei, um Partikularinteressen zu verteidigen, werden ihm auch nicht alle Anhänger seiner Forschung folgen wollen. Produktiv, inspirierend und originell bleiben die Werke des Jubilars allemal.