Eva und die Männer der Kleinstadt
Ausgerechnet bei diesem digitalen Berliner Theatertreffen stechen in Zeiten der virtualisierten Dekonstruktionen zwei literarische Spiele heraus. Am kommenden Freitag wird die Hamburger Uraufführung des ersten neuen Stücks von Rainald Goetz seit zwei Jahrzehnten gezeigt: „Reich des Todes“, eine vierstündige Reflexion der Anschläge von Nine-Eleven. Und am Sonntagabend ist die TV-Aufzeichnung zum Theatertreffen aus Wien Anna Gmeyners „Automatenbüffet“ zu sehen (Regie Barbara Frey).
Eine Wiederentdeckung. Denn das Stück mit dem modern wirkenden Titel ist schon neunzig Jahre alt, und wer kennt heute noch die 1902 in Wien geborene, 1991 im englischen York gestorbene Anna Gmeyner? Eigentlich dürfte man von ihr wissen, weil ihre im französischen Exil der Dreißiger Jahre entstandenen Romane „Manja“ und „Café du Dôme“, 1938 in Amsterdam und ’41 in London und New York erschienen, auch vor einigen Jahren auf Deutsch im Mannheimer Persona Verlag und bei Aufbau in Berlin neu aufgelegt wurden. Zudem engagierte sich Iris Berben mit einer Hörbuchversion von „Manja“ für Anna Gmeyner, aber das Echo blieb gering. Wie zuvor bei einem Versuch mit dem „Automatenbüffet“ 2004 in der Wiener Josefstadt.
Auf der Szene des Akademietheater der Wiener Burg lässt Barbara Frey ihre Schauspieler nun vor einem Halbrund erleuchteter Glaskästchen agieren, in denen wie serielle Objekte die immergleich aufgeschäumten Bierkrüge des titelgebenden Büffets eine fast ironische Kulisse bilden (Bühne Martin Zehetgruber). Eine Kleinstadtgesellschaft trifft in diesem Lokal der Automatenschankwirtin Frau Adam zusammen, und im Kern geht es um Ökonomie und Ökologie. Der angelnde Adam-Gatte möchte einen nahegelegenen Teich in eine Fischzucht mit moderner Konservenwirtschaft verwandeln. Am Ende, nach allerlei Intrigen, siegen jedoch die Interessen der Metzgereien. Das Fleisch regiert, auch zwischen Mann und Frau.
Geboren um die Ecke von Freud fand sie in Berlin eine kurze Heimat
Aber mit Zwischentönen. Mit einer weiblichen Eigenwilligkeit. Sie wird verkörpert von der jungen Frau Eva, die anfangs von Herrn Adam vorm Selbstmord aus dem Wasser gerettet und irgendwie auch von der unseligen Liebe zu einem Macho-Dichter namens Boxer kuriert wird. Doch am Ende wird Eva just Adam vor dem Wasserleichentod bewahren – ohne darum nur dem Mann mit dem biblischen Ur-Namen zu verfallen. „Wir sind kein richtiges Liebespaar“, sagt Eva. Und als Adam mit ihr „dorthin oder dahin“ weggehen will, ob nach „Norden, Süden, Westen, Osten“, erwidert sie mit leichtem Zweifel: „Es gibt auch noch Südost, Nordwest, Nordost und Südwest.“
Begleitet von einem teils hochkarätigen Ensemble (Maria Happel, Dörte Lyssewski) spielen das Michael Maertens und Katharina Lorenz als nachtdunkel tagträumerisches Unpaar, wobei Katharina Lorenz’ Evafrau dezent und doch unübersehbar als heimliche Kraft, als ein schon über die Zeit der bei Brecht oder Horváth in ähnlichen Milieus noch triumphierenden Mannsbilder hinausweist.
Die äußerlich unspektakuläre Wiener Aufführung, die letzten Herbst noch Premiere vor Publikum hatte, ist in ihrer Raum- und Stimmungstiefe auf dem Flachbildschirm gerade zu ahnen. Aber die Töne, die durchdringen und Anna Gmeyner auch als Wahlverwandte ihrer Zeitgenossin Marieluise Fleißer erscheinen lassen, machen neugierig auf die fast Unbekannte.
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Berlin vor 1933 war die kurzfristige, doch, wie sie selbst sagte, eigentliche Heimstadt Gmeyners, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Wiener Berggasse, um die Ecke von Sigmund Freud, einem Bekannten der jüdischen Anwaltsfamilie, geboren wurde. Schon als Zwanzigjährige zog es sie weg von Wien und dem Literaturstudium. Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie 1924 den Biologen und Mediziner Berthold Wiesner, ein Jahr später wurde ihre Tochter Eva geboren – die später als Eva Ibbotson in England zur Bestsellerautorin von Kinderbüchern avancierte. Als Wiesner 1926 einen Ruf an die Universität Edinburgh erhält, ziehen Anna und Eva mit nach Großbritannien. Dort erlebt die inzwischen von den Revolutionstheorien Kropotkins inspirierte Anna Gmeyner-Wiesner einen schottischen Bergarbeiterstreik, fährt mit den Kumpels ein in die Stollen und schreibt bald ihr erstes Drama „Heer ohne Helden“.
Eine Frau namens Maggie Lee ist da schon die unheldische Heldin. Das Stück wird in Dresden 1929 uraufgeführt, in Berlin werden Piscator sowie der junge Regisseur und Brecht-Freund Slatan Dudow auf den Text aufmerksam, man fahndet nach der Autorin ohne bekannte Adresse, Hanns Eisler schreibt dazu eine Musik. Anna Gmeyner trennt sich von Berthold Wiesner, der später als Arzt einer Londoner Befruchtungsklinik für kinderlose (Ehe-)Frauen per Reagenzglas über 600 leibliche Kinder zeugen wird, was nach Bekanntwerden zu bis heute anhaltenden verwandtschaftlichen Komplikationen führt.
[Die Aufzeichnung von „Automatenbüffet“ ist bis 11. September in der ZDF-Mediathek abrufbar.]
Anna aber jobbt in Berlin um 1930 bei Siemens und verwendet Motive der modernen Arbeitswelt in ihrem nächsten Drama „Zehn am Fließband“, ist Dramaturgin von Piscator, schreibt noch ein Stück „Welt überfüllt“ und dann „Automatenbüffet“, das 1932 in Hamburg und Berlin aufgeführt wird und 1933 unter dem Titel „Im Trüben fischen“ auch mit Therese Giehse in Zürich. In Paris schreibt sie für den Filmregisseur G. W. Pabst unter anderem das Drehbuch für seinen „Don Quichote“, verliebt sich in den exilrussischen Religionsphilosophen Jascha Morduch, sie heiraten und ziehen noch vor Kriegsbeginn nach England.
Das an den Amsterdamer Querido Verlag geschickte deutsche Originalmanuskript des hoch interessant in der Pariser Exilantenszene spielenden Romans „Café du Dôme“ geht verloren, so muss das Buch später aus der englischen Übersetzung rückübertragen werden. Auch die Schriftstellerin Anna Gmeyner, die sich mit ihrem neuen Mann in Berkshire aufs Landleben und ins philosophisch oder religiös Spirituelle zurückzieht, geht der Welt immer mehr verloren. Nun, übrigens, ruht ihr Nachlass zur weiteren Erforschung im Archiv der Deutschen Kinemathek in Berlin.