Goyas Lebenswerk in der Fondation Beyeler
Im Winter 1792/93 befällt Goya eine merkwürdige Krankheit, vermutlich ein Schlaganfall, er kann wochenlang das Bett nicht verlassen. Als der Künstler genesen ist, hat er das Hörvermögen verloren, für ihn versinkt die Welt in Tonlosigkeit. Er brüllt, er säuselt, er kräht zurück, wie er es verstand: mit Bildern. Sie sind seine Antwort auf das, was er wahrnimmt. Der Sehsinn wird für ihn wichtiger denn je.
Die Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zeigt den ganzen Goya, das Werk vor und nach dem gesundheitlichen Einschnitt in der Lebensmitte des Spaniers, der 82-jährig in Bordeaux verstirbt. Es lässt sich dennoch nicht in zwei Hälften teilen: vorher der lebensfrohe Maler, der die Schönen und Reichen porträtiert, hinterher der Misanthrop, der die Grausamkeiten der Welt mit der Genauigkeit eines Polizeireporters dokumentiert.
Goya war immer beides, und beide Seiten kommen in seinen Bildern vor, manchmal gleichzeitig. Ließ er sich als Hofmaler korrumpieren? Auch als angestellter Künstler hat er die Freiheit gelebt, hat er das Miese im Menschen, auch das Schöne gezeigt.
Teppich für das Arbeitszimmer von Carlos IV.
Programmatisch hängt „Die Strohpuppe“ von 1791/92 aus dem Prado im ersten Saal der fulminanten Ausstellung, die mit 71 Gemälden – dazu fünfzig Zeichnungen und fünfzig Grafiken – nochmals 20 Gemälde mehr als die letzte große Retrospektive 2005 in Berlin aufbietet.
Der Teppichentwurf für das Arbeitszimmer von Carlos IV. im Escorial zeigt vier Hofdamen, die zu ihrem Amüsement eine Puppe mit Kniebundhose, Samtjacke und Haarzopf auf einem Tuch in die Luft katapultieren. Die Figur wirkt lebensecht, wären da nicht das übertrieben geschminkte Gesicht sowie die grausig zur Seite gerissenen Arme und der abgeknickte Kopf.
[Fondation Beyeler, Riehen, bis 23. 1.; Katalog (Hatje Cantz) 58 €.]
All das Böse steckt bereits in der Darstellung dieses heiteren Karnevalssonntagsrituals. Zwei Jahrzehnte später greift Goya das Motiv wieder auf für den Grafikzyklus „Disparates“ (Unsinn). Hier schleudern sechs Frauen unter dem Titel „Weibliche Torheit“ ein menschliches Knäuel mit einem Tuch in die Höhe.
Aus dem Spaß ist Ernst geworden. Mit seinen „Desastros de la guerra“ (Die Schrecken des Krieges, 1811-14) hat Goya zuvor gnadenlos festgehalten, was Männer Frauen, die napoleonischen Truppen den spanischen Aufständischen antun können – und umgekehrt.
Geworben wird mit der berühmten „Maya“
Die einfach „Goya“ betitelte Retrospektive ist eine Achterbahnfahrt – auf Glanz folgt Gewalt, auf sensible Freundesporträts die Fratzen des Kannibalismus, auf feine Damen aufgetürmte Kadaver. Geworben wird für die Schau mit der berühmten „Maja“, allerdings der bekleideten. Ihr Pendant, die auf dem gleichen Kanapee ausgestreckte nackte Schönheit, blieb im Prado zurück. Entliehen wird immer nur eine.
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Samuel Keller, der Direktor der Fondation Beyeler, entschied sich in der calvinistische Schweiz für das züchtige, in Tüll gewandete Modell, das sich allerdings nicht weniger reizvoll mit seinen hinter dem Kopf verschränkten Armen offeriert. Ihr Sexappeal wird trotzdem gerne für Plakat und Katalogtitel genutzt.
Goya war der große Durchlauferhitzer für die Moderne. Von Tizian übernahm er die Venus; von ihm wiederum ließ sich Manet zu seiner „Olympia“ inspirieren. Goyas Majas besaßen eine Unverfrorenheit und Hintergründigkeit, die über ein halbes Jahrhundert später nichts von ihrer Virulenz verloren hatten. Zu den Highlights der Ausstellung gehören zwei weitere Maja-Motive. Maja, das ist die Bezeichnung für Mädchen aus dem Volk.
Goya war Vorreiter der Moderne
Diesmal haben sie auf einem Balkon Platz genommen und sind gut gekleidet. Die eine beugt sich neugierig über das Geländer, hinter ihr grinst die Kupplerin Celestina in sich hinein. Auf dem anderen Bild sitzen zwei junge Frauen und tuscheln über das, was sie auf dem Trottoir sehen, während sich hinter ihnen als dunkle Schatten vermutlich Freier verdrücken. Manet griff das Motiv ebenfalls auf, doch sind es bei ihm Damen der Gesellschaft, die Dekolletés artig geschlossen.
Picasso wiederum übernahm die Wildheit und Vehemenz von Goyas „Tauromaquia“. Goyas dritter Grafikzyklus war zu dessen Lebzeiten kein Erfolg beschieden, gab er doch zu drastisch das Geschehen in der Arena wider. Das Gemetzel der aufgespießten Pferde, den Tod des Toreros wollte damals niemand sehen.
Alle drei Zyklen – „Die Schrecken des Krieges“, „Disparates“ und die „Tauromaquia“ – sind Werke des späten Goya, der sich desillusioniert nach Bordeaux zurückzog, als mit Fernando VII. die Restauration begann. 1814/15 hat er ihn noch einmal porträtiert. Der Regent hält auf dem Bild eigenartig verspannt den Marschallstab nach vorn, als wollte er Entschlossenheit demonstrieren, während seine Linke den Hermelinmantel zurückschiebt, um den goldglänzenden Griff seines Degens vorzuführen.
Er sollte als einer der grausamsten Herrscher in die Geschichte Spaniens eingehen, unter ihm kehrten Inquisition und Folter zurück.
Spannender Wechsel der Formate
Goya, das ist nicht nur ein beständiger Wechsel der Temperamente, der Motive und Techniken, sondern vor allem der Formate. Das große repräsentative Gesellschaftsbild etwa der Herzogin von Alba, deren Hündchen die gleiche rote Schleife ums rechte Hinterbein trägt wie sie am Ausschnitt, steht neben der intimen Fantasie.
Man muss schon ganz nah an das kleinformatige Bild „Hexenflug“ von 1797/98 herantreten, das zu einer sechsteiligen Serie zum Thema Hexerei und Aberglauben gehört, die der Herzog und die Herzogin von Osuna beauftragt hatten. Erst dann ist zu erkennen, dass die drei Hexen mit freiem Oberkörper und Spitzhüten das von ihnen in die Lüfte gehobene, entblößte Opfer an Brust, Bein und Bauch aussaugen.
Unter ihnen, zu ebener Erde hat sich ein Bauer panisch ein Tuch über den Kopf gezogen, um die Monströsität nicht zu sehen, ein anderer hält sich die Ohren zu. Der böse Spuk ist eine weitere Flugszene in Goyas Werk. Für den Aberglauben seiner Zeitgenossen hatte der Künstler nichts übrig, beflügelt hat er ihn doch.