Neues Album von Tocotronic: Todeskuss im Regionalexpress
Eine Farbexplosion in Violett, Pink und Gelb. Vorne sind die Umrisse tanzender Körper zu erkennen, einige verschmelzen mit den Flammen, die im Hintergrund aus einem quadratischen Gebäude schlagen. Es soll Berlins bekanntester Club sein, wie der Titel dieses Gemäldes von Austin Martin White aus dem Jahr 2022 verrät: „Fireatthechurchofclubs (Bye Bye Berghain)“ lautet er.
Als der Musiker Dirk von Lowtzow es in einer Ausstellung sieht, ist er so fasziniert, dass er sich zurück zu Hause sogleich an einen Liedtext dazu setzt. „Bye Bye Berlin/ Dein Berghain brennt/ Feuer verzehrt/ Sein Fundament“, singt er nun in einem der neuen Songs seiner Band Tocotronic, das von einem griffigen Indierock-Riff eingeleitet wird.
„Ich habe mir vorgestellt, dass das Lied aus der Sicht von Vögeln geschrieben ist, ein bisschen wie bei Hitchcock“, sagt von Lowtzow. „Man sieht die Stadt von oben, das Berghain brennt, eine Spur der Verwüstung breitet sich aus.“ Der Sänger lacht über seine vertonte Fantasie, deren hoher Humoranteil sich im Refrain von „Bye Bye Berlin“ durch eingeschobene Quietsch-Heuler der Gitarre manifestiert.
Der nicht mal dreiminütige Abgesang, in dem auch die Uckermark als Alternative zur Hauptstadt gleich noch mit abgeräumt wird, ist also weder Berlin-Bashing noch Frustabbau nach einer Eigenbedarfskündigung. „Doch leider ist die Stadt in den letzten fünf bis zehn Jahren deutlich abweisender geworden, mehr wie ein Business-Park – jedenfalls nicht mehr die räumliche Utopie, die sie um die Jahrtausendwende herum noch darstellte“, sagt Dirk von Lowtzow.
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Genau wie seine Band-Kollegen Jan Müller und Arne Zank, mit denen er in den Neunzigern zu den Protagonisten der Hamburger Schule gehörte, wohnt er mittlerweile hier. Die Gruppe ist zum Gespräch ins Schöneberger Gebäude ihrer neuen Plattenfirma Sony gekommen. Der Vertrag mit Universal sei nach 15 Jahren ausgelaufen, erklärt Bassist Jan Müller bei Kaffee und Schokosnacks. „Da ist keine große Story dahinter, es gab auch kein Zerwürfnis.“
Aufschimmern des Glücks in schwierigen Zeiten
Also bringen Tocotronic ihr 14. Studioalbum in 30 Jahren Bandgeschichte eben bei einem anderen Major-Label heraus. Es trägt den Titel „Golden Years“ und hat ein goldenes Cover –nach dem weißen und roten Album ein Verweis in die eigene Geschichte, die überdies einst beim Hamburger Indie-Label L’age d’or begann. Der Titel lässt auch an den gleichnamigen Song von David Bowie denken und natürlich an die sogenannten Goldenen Zwanziger vor hundert Jahren.
Allerdings geht es in der Tocotronic-Single dann recht lakonisch zu, keine Spur von glamourösem Strahlen: Zuckeliger Train-Beat, folkige Akustikgitarrenbegleitung, warme Orgelakkorde. Das lyrische Ich, offenbar Musiker, sitzt früh am Morgen in der zweiten Klasse eines Zuges zwischen Recklinghausen und Göttingen, trinkt Kaffee, während die Sonne über die Gleise steigt und die Mitreisenden in ein goldenes Licht taucht.
Der Refrain-Text besteht allein aus dem viermal wiederholten „Golden Years“ – sanft intoniert von Dirk von Lowtzow und Stella Sommer. Der Sänger sagt: „Es geht um dieses Gefühl, dass alles auf seine Art ganz gut so ist, wie es ist. Ein kurzes Aufschimmern des Glücks und der Zufriedenheit in einer Welt, in der man mit allem und jedem unzufrieden sein könnte.“
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Ohnehin hatte die Band mit der ersten Vorabsingle „Denn sie wissen, was sie tun“ schon vor drei Monaten klargemacht, dass sie die Zeiten derzeit keineswegs als sonderlich goldig betrachtet. Darin warnen sie vor gefährlichen Menschen, die „Fiesheit als Identität“ leben und immer zahlreicher werden.
Ohne die AfD und andere Rechtsextreme explizit zu nennen, wird auch so klar, auf wen die Zeilen „Darum muss man sie bekämpfen/ Aber niemals mit Gewalt/ Wenn wir sie auf die Münder küssen/ Machen wir sie schneller kalt“ gemünzt sind. Nicht zuletzt, weil es eine Anspielung an das Kurt Tucholsky-Gedicht „Rosen auf den Weg gestreut“ ist, in dem der Autor 1931 unter anderem schrieb: „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft.“
Dirk von Lowtzow weist darauf hin, dass der Kuss im Tocotronic-Lied ein Todeskuss sei, fast eine Eliminierungsfantasie. Das passe natürlich nicht zu dem Gewaltfreiheitsbekenntnis in der Zeile davor. „Aber gerade aus dieser Widersprüchlichkeit entsteht eine Kraft und vielleicht auch ein böser Witz.“
Es geht darum, die Hoffnung und den Kampfeswillen nicht zu verlieren – und wehrhaft gegen diese Umtriebe zu bleiben.
Arne Zank, Bandmitglied von Tocotronic
Beides scheint derzeit nötiger denn je. Und so schaut das Trio denn auch voller Sorge auf die nähere Zukunft, allerdings keineswegs resigniert. „Es geht darum, die Hoffnung und den Kampfeswillen nicht zu verlieren – und wehrhaft gegen diese Umtriebe zu bleiben“, sagt Arne Zank. Alle Bandmitglieder sind sich einig, dass noch längst nicht alle Mittel ausgeschöpft sind, um die AfD zu bekämpfen. Es gehe nur viel zu zögerlich voran, etwa in Sachen Verbotsantrag.
Nonchalanter Rocksound
„Denn sie wissen, was sie tun“ gehört zu den schnellen, geradeaus rockenden Songs auf „Golden Years“, das in Zusammenarbeit mit dem langjährigen Tocotronic-Produzent Moses Schneider entstand. Er habe die Musiker getrennt voneinander, teils sogar in verschiedenen Studios aufgenommen, ihnen aber die Aufgabenstellung mitgegeben, ein Bandgefühl zu kreieren, erzählt Zank und von Lowtzow ergänzt: „Wir haben versucht, eine gewisse Nonchalance wiederzufinden, es durfte auch mal was ausgefranst oder fragmentarisch sein.“
Was ausgezeichnet funktioniert. Der Sound ist wieder etwas ruppiger und reduzierter als zuletzt auf „Nie wieder Krieg“ (2022) oder „Die Unendlichkeit“ (2018). Streicherarrangements gibt es diesmal keine, dafür trippelt die Band mal ins leicht Countryeske wie beim Titelstück oder versucht sich an einem windschiefen Dub namens „Niedrig“, in dem sogar eine Maultrommel und eine Melodica mitmischen.