Ein „Schocksalsschlag“ für Elena Semechin
Gerade schrieb ich los: Es ist ein Schocksalsschlag für Elena Semechin. Ich überflog das Wort und dachte: Freudscher Vertipper. Es ist ein Schicksalsschlag, und es ist ein Schock für Elena Semechin, die man als Paralympics-Siegerin Elena Krawzow kennt. Der bei ihrer Operation entfernte Gehirntumor ist doch nicht gutartig. Die stark sehbehinderte Wahl-Berlinerin bekam im Alter von 28 Jahren die Diagnose: Krebs.
Sie erinnern sich, ich habe Ihnen in meiner vergangenen Kolumne am ersten Mittwoch im November von der Goldmedaillengewinnerin erzählt. Weil ich sie als Schwimmerin beobachtete, und weil ich ihr als Mensch das Beste wünsche.
Es liegt in der Natur der Sache beim Sport, dass wir als Publikum mit Athlet:innen mitzittern und bangen, mitfeiern und johlen, Tränen vor Frust oder Freude vergießen. Diesmal bange ich als Journalistin und als Mensch besonders, weil mir viel Persönliches durch Kopf und Seele geht.
Sie müssen wissen: Als ich selbst – zumeist unbekümmerte – 28 Jahre jung und vier Jahre beim Tagesspiegel war, bangte ich bereits seit zehn Jahren um meinen schwerbehinderten Vater mit Multipler Sklerose (MS). Wir zwei Töchter sind seit Jahrzehnten immer wieder zur Stelle. Meine Mutter hat ihn bis beinahe zu ihrem Tode 2020 aufopferungsvoll und liebend gepflegt.
Alle Paralympionik:innen haben „Schocksalsschläge“ erlitten
Mein Vater ist bis heute stolz – aber auch traurig darüber, dass er mich infolge seiner MS motivierte, die sportlich und gesellschaftlich so wichtigen Themen Behinderung und Inklusion auch im Beruf proaktiv anzugehen und 2004 gemeinsam mit der Agentur Panta Rhei und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung das Tagesspiegel-Medienprojekt „Paralympics Zeitung“ (PZ) zu begründen.
Ich sage immer, das sei das einzig Gute an seiner Krankheit, dass ich über die PZ bis zum Start meiner Familienphase 2016 so viele faszinierende Menschen in den Arenen der Welt miterleben durfte. Elena Krawzow traf ich nicht persönlich – sonst fielen mir die Zeilen noch schwerer.
Alle Paralympionik:innen und ihr Umfeld haben „Schocksalsschläge“ erlitten. Sie kamen mit einer Beeinträchtigung zur Welt, sie erlitten einen Unfall, eine schwere Krankheit, sie hatten teils Suizidgedanken, sie hielten durch. Die in Kasachstan aufgewachsene Elena musste sich mit elf Jahren in Bamberg neu eingewöhnen. Als sie sieben war, brach bei ihr die Erb-Erkrankung Morbus Stargardt aus, die das Sehen stark einschränkt.
„Heilbar ist die Krankheit nicht”
Mit 27 die Diagnose: Diffuser Tumor im Gehirn, er sollte gutartig sein, er lag aber am Persönlichkeitszenrum. Sie sagte der Agentur dpa: „Ich habe Angst, dass ich nach der OP eine andere bin.“ Sie ist es nun auf andere Weise. Die „Bild am Sonntag“ zitiert sie so: „Der schlimmste Satz vom Arzt war: ,Heilbar ist die Krankheit nicht, die wird Sie ein Leben lang begleiten’“. Und: „Da realisierte ich zum ersten Mal, wie scheiße das ist.“
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Im Aktuellen Sportstudio sagte sie: „Ich muss tatsächlich noch zur Bestrahlung und zur Chemotherapie, weil ich einfach sicher sein möchte, dass der gesamte Tumor entfernt wurde.“ Der Tumor war „diffus“: „Man konnte ihn nicht so richtig abgrenzen von normalem Gewebe, also dem gesundem.“ Die Chemo kann sie mit Tabletten zu Hause machen.
„Was für ein Jahr: Endlich bin ich Paralympics-Siegerin geworden, endlich habe ich meinen Traummann geheiratet, zum Glück wurde mein Gehirntumor erfolgreich entfernt und nun auch noch die Krönung, dass ich zur Para-Sportlerin des Jahres gewählt worden bin“, hatte sie noch vor der neuesten Wendung in einer Verbandsmitteilung geäußert. Und nach der Ehrung: „Ich bin einfach ein Glückspilz.“ So möge es bleiben.
Ich habe in meinem Umfeld mehrere solcher Kämpfer:innen, die ich bewundere. Elena Semechin kann kämpfen.