Der gläserne Märker
Als Theodor Fontane im Januar 1895 seine Arbeit am „Stechlin“ beginnt, liegt in Berlin Schnee. Zu Jahresbeginn schreibt er Dankesbriefe für die Wünsche zum 75. Geburtstag, parallel arbeitet er an dem Gedicht „Als ich 75 wurde“ und an den autobiographischen Aufzeichnungen „Von Zwanzig bis Dreißig“. Am 12. Januar sieht Fontane im Deutschen Theater die deutsche Erstaufführung von Ibsens „Klein Eyolf“, eine, wie er findet, insgesamt „kolossale Leistung“. Danach isst man bei Fontanes im kleinen Kreis und der Hausherr trägt zum Dessert sein Gedicht „Als ich 75. wurde“ vor.
Das Leben Fontanes ist gut erforscht. Dass man ihm jetzt auf Schritt und Tritt folgen, in Korrespondenzen und Haushaltsbüchern schmökern kann, auch ohne die papiernen Standardwerke zur Hand zu haben – das ist dem Potsdamer Theodor Fontane Archiv zu verdanken.
Dort wurden jüngst zwei weitere Online-Dienste freigeschaltet: die „Fontane Chronik digital“ und die „Fontane Briefdatenbank“. Zusammen mit den vier bereits vorhanden Onlinediensten zu Bibliografie, Handschriften, Fontane-Blättern und Fontanes Handbibliothek wird der märkische Autor nun tatsächlich zum gläsernen Mann. Nicht die Datenfülle in sich ist dabei neu. Sondern dass diese jetzt für alle digital greifbar ist. Kostenlos.
Hier gibt es Infos zu 55 Lebensjahren des Dichters
Mit den zwei Neuzugängen im digitalen Datenarchiv ist eine rund vierjährige Forschungsarbeit zu Ende gegangen. In Angriff genommen hatte sie Peer Trilcke, als er 2017 die Leitung des Archivs übernahm. Sein Ziel: Die Dokumente zur Forschung ins Netz bringen. „Denn nicht jeder hat Zugang zu den Standardwerken“, sagt Trilcke und greift einen der schweren Bände aus dem Regal hinter sich. Roland Berbigs fünfbändige „Theodor Fontane Chronik“, erschienen 2010 im Wissenschaftsverlag DeGruyter, kostet insgesamt 780 Euro. Der Zugang zur digitalen Fontane-Chronik, die Berbigs Arbeit in anderer Form anbietet, kostet nichts.
Die „Fontane Chronik digital“ versammelt Informationen zu über 20 000 Tagen im Leben Fontanes. Knapp 55 von 78 gelebten Jahren. Man kann die Chronik nach eigenen Suchbegriffen durchforsten oder sie nach vorgegebenen Schlagworten absuchen.
Trifft ein Schlagwort an einem bestimmten Tag zu, ist das Datum mit einem farbigen Punkt markiert. Viele Tage im Leben dieses Vielarbeiters sind sehr bunt. „Ja, Fontane war ein Workaholic“, sagt Anna Busch, die das Online-Archiv mit aufgebaut hat. Fragt man die Wissenschaftlerin, was sie am meisten beeindruckt hat, dann sagt sie: „Wie viel er gearbeitet hat. Er hatte ein unglaublich reiches, inhaltsreiches Leben.“
6000 Briefe hat Fontane geschrieben
Die Farbe Hellblau steht in der digitalen Chronik für „Brief von Fontane“. Rund 6000 hat der Autor geschrieben. Das neue digitale Brief-Archiv knüpft an das gedruckte Referenzwerk „Verzeichnis und Register“ an, veröffentlicht 1988. Auch hier wurde digital verschlagwortet: nach Verfasser:in, Adressat:in, Datum, Ort, Informationen zur Überlieferungs- und Druckgeschichte. Das Verzeichnis der besuchten Orte führt 759 auf: von Aachen und Aalborg bis Zorndorf und Zürich. Die meisten Briefe aber schrieb er aus Berlin.
„Wir haben aus Buchseiten eine Datenbank gebaut“, beschreibt Peer Trilcke, was das Potsdamer Archiv geleistet hat. „Entstanden ist ein wirklicher Datenschatz.“ Der will nun gehoben werden. Denn was noch aussteht: Der digitale Zugang zu den Originalen. Bisher sind nur die Verzeichnisse online. „Das erste Stockwerk des digitalen Archivs steht“, sagt Trilcke. „Aber eigentlich geht unsere Arbeit jetzt erst los.“ Eine dauerhaftere Förderung würde dabei helfen. Beim Deutschen Literaturarchiv Marbach habe man das schon begriffen. In Brandenburg aber, am zur Universität Potsdam gehörenden Fontane Archiv, hangelt man sich derweil weiterhin von Projekt zu Projekt.
An Fontanes Todestag, dem 20. September 1898, gibt es übrigens Kartoffelsuppe sowie Kartoffeln mit Petersilie, Hammelrippchen und Milchgrieß. Zum Kaffee ist Friedrich Fontane da, der mit seinem Vater über dessen Gesundheit und den „Stechlin“ spricht. „Das Buch, das ich für mich geschrieben habe“, sagte Fontane dem Archiv zufolge. Und: „Mir gefällt’s.“