Acht Länder, ein Jugendorchester: Leuchtfeuer im Kaukasus 

Georgien, so scheint es, ist ein gottgesegnetes Land. Die flirrende Sonne des Kaukasus, die urwüchsige Landschaft zwischen Tälern, Ebenen und Gebirgen, dazu eine jahrtausendealte Kultur – all das machte Georgien zum Traum- und Urlaubsland par excellence, schon zu Sowjetzeiten.

Nur kann diese Sehnsucht zum Albtraum gerinnen, wenn der Traum sich im Kopf eines Diktators abspielt. Die Wahrheit ist: Die Schlacht um Georgien hat längst begonnen. Noch vor fünfzehn Jahren rollten russische Panzer durch das Land, seitdem sind rund zwanzig Prozent des georgischen Staatsterritoriums besetzt. Heute geht der Konflikt eher unterschwellig weiter, in der Wirtschaft, in der Kultur, im Literatur-, Theater- und Filmbetrieb. Georgien ist immer noch der Zankapfel im Kaukasus. Das Putin-Reich mag seine ehemalige Sowjetrepublik nicht kampflos preisgeben – auch wenn 98 Prozent der Georgier für einen sofortigen Anschluss an den Westen sind.  

Das jedenfalls versichern einem alle, mit denen man sich vor den malerischen Fassaden des Rustaweli Boulevards unterhält, wo sich die Museen, Cafés, und Parlamentsgebäude aneinanderreihen. Auf der Dachterrasse des Szene-Restaurants „The Republic“ treffen wir Sandro Antadze. „Wir sind ein schwaches Land“, brummt der Künstler, der für seine klare Sprache bekannt ist. „Militärisch hätten wir den Russen nichts entgegenzusetzen. Sie würden uns mit dem Dessertlöffel zum Nachtisch verspeisen. Aber das heißt nicht, dass wir aufgeben werden.“ 

Große kulturelle Traditionen

Solch sturer Freiheitswille ist typisch für die Georgier. Antadze übersetzt das in ein radikales, verstörendes Bild: ein Gemälde des brennenden Moskau. Hoch schlagen die Flammen über die Kremlmauern in einen düsteren, verrußten russischen Himmel. Gleich nach Ausbruch des Ukraine-Krieges habe er das gemalt: „Wir haben so lange unter den russischen Besatzern gelitten, es ist Zeit, dass das für immer aufhört.“ Eine Version des Bildes habe er sogar nach Kiew geschickt, in den Präsidentenpalast von Wolodymyr Selenskyj. Ob es dort aufgehängt worden sei, weiß er allerdings nicht. Auf die Frage, wie viel er für das Bild haben wolle, zuckt er mit den Schultern. „Wenn es morgen Wirklichkeit wird, können Sie es umsonst mitnehmen.“ 

Das Merkwürdige: Wer als Besucher nach Georgien reist, spürt von den Spannungen praktisch nichts. Im Gegenteil. Nirgendwo, so scheint es, fühlt man sich sicherer und besser aufgehoben als im traditionell gastfreundlichen Georgien. Es fällt schwer, sich ein angenehmeres Reiseland vorzustellen. Georgien verfügt neben seiner berühmten Kulinarik auch über eine quicklebendige Literaturszene, die 2018 auf der Frankfurter Buchmesse zu erleben war. Dazu gibt es renommierte Film- und Theaterfestivals.  

Komplexe politische Lage

Allerdings sind über dieser Szene düstere Wolken aufgezogen. Schriftstellern, Cineasten und Kulturmanagern wird von der prorussischen Regierung das Leben schwer gemacht. Das liegt vor allem an der umtriebigen, äußerst unbeliebten Kulturministerin, die gegen namhafte Persönlichkeiten der Kulturwelt vorgeht und die Zivilgesellschaft nach Möglichkeit beschneidet. Die Ministerin mit der Axt, die im vorigen Kabinett für die Justiz zuständig war, gehört der Regierungspartei „Georgischer Traum“ an. Dahinter steckt der Milliardär Iwanschischwili, ein Oligarch und Strippenzieher, der seine Milliarden im Moskau der neunziger Jahre gemacht hat und sich seine guten Beziehungen ins Putin-Reich nicht vermiesen lassen will. 

 Das Pankaukasische Jugendorchester  führt Musikerinnen und Musiker aus acht Ländern zusammen, von Georgien über die Ukraine, Aserbaidschan, Armenien bis nach Kasachstan.
 Das Pankaukasische Jugendorchester  führt Musikerinnen und Musiker aus acht Ländern zusammen, von Georgien über die Ukraine, Aserbaidschan, Armenien bis nach Kasachstan.
© Silk Road Group

Umso bemerkenswerter, was gerade in der Musik Georgiens geschieht. Zwei Autostunden von Tblissi, in Kachetien, mitten in der besten Weinregion Georgiens, findet bereits zum fünften Mal das Tsinandale Music Festival statt. Internationale Solisten treten hier auf, doch der eigentliche Star ist das Orchester: das Pancaucasian Youth Orchestra. Es führt Musikerinnen und Musiker aus acht Ländern zusammen, von Georgien über die Ukraine, Aserbaidschan, Armenien bis nach Kasachstan.  

Das Orchester, ausgesucht aus den Musikakademien der jeweiligen Hauptstädte, hat feuriges, internationales Niveau. Wenn Schumanns Klavierkonzert mit Yefim Bronfman als Solisten in Tsinanadale in den Himmel steigt, vor dem Hintergrund der turmhohen Pappeln und Linden, entsteht eine andere Welt. Das Orchester verschmilzt auf beinahe magische Weise mit dem künstlerischen Leiter Giannandrea Noseda. Am Ende reißen die Cellistinnen ihre Instrumente hoch über die Köpfe und feiern, als seien sie auf einem Popkonzert.  

Kontakte nach Berlin

Das Pancaucasian Youth Orchestra ist aber auch ein politisches Projekt. Es bringt Menschen aus Staaten zusammen, die teilweise in heftige Konflikte miteinander verstrickt sind oder sogar Kriege ausgefochten haben wie Aserbaidschan und Armenien. In Tsinandale sitzt die Violonistin aus Eriwan neben dem Bratschisten aus Baku. An einem anderen Ort kämen diese Künstler wahrscheinlich nie zusammen. Das Pankaukasische Jugendorchester, deren Teilnehmer bis 28 Jahre alt sind, folgt dem Prinzip von Daniel Barenboims West Eastern Divan Orchestra. Es umfasst jedoch eine riesige Region, die bis nach Zentralasien reicht. Und weitere Staaten haben sich angemeldet, wollen gerne beim nächsten Festival dabei sein. „Wir sind das einzige Orchester der Welt, das trotz Covid immer weitergespielt hat“, sagt David Sakvarelidze, der langjährige Direktor des Opernhauses von Tblissi. Ihm ist das Wunder von Tsinandale vor allem zu verdanken.

Mehrfach war er in Berlin und hat geradezu eine eigene Privat-Diplomatie entwickelt. So erreichte er, dass die Berliner Philharmoniker ihr nächstes Europa-Konzert am 1. Mai 2024 in Tsinandale spielen. Und er hat in Eigenregie, ohne jede Unterstützung seiner Regierung, Kontakte in den Bundestag geknüpft. So war auch die Vorsitzende des Kulturausschusses, Katrin Budde, beim diesjährigen Festival dabei und zeigte sich enthusiastisch. Die deutsch-georgischen Beziehungen, wird von allen Seiten betont, seien für die Zukunft entscheidend. 

Klassik in den Weinbergen

„Wir haben in unserer Region fantastische Talente, aber was die Ausbildung und die Institutionen angeht, herrscht noch immer das alte Sowjetsystem. Georgien braucht westliche Strukturen, einen grundlegenden Umbau, weg vom Autoritarismus sowjetischer Prägung hin zum Vorbild des Lernens und Lehrens, wie es an deutschen Musikschulen zu beobachten ist“, erklärt der charismatische Theatermann im Radisson Collection Hotel von Tsinandale, dem Austragungsort des Festivals.  

Es ist das vielleicht schönste Hotel des Landes. Weinberge, so weit das Auge reicht, die Konzertsäle sind in die Anlage integriert, wölben sich teilweise über dem historischen Weinkeller, die Zimmer beziehen sich auf die Musik und auf die Kulturgeschichte des alten Landguts, wo schon Puschkin und Alexandre Dumas Tee tranken. Der Bau, eingerichtet vom deutschen Designer Ingo Maurer, ist parallel zur Entwicklung des Musikfestivals entstanden. Hauptsponsor ist die Silk Road Gruppe des wichtigen Investors George Ramishvili, dem auch die Immobilie gehört.  

Aber: russische Panzer stehen nur zwanzig Kilometer entfernt, auf besetztem Gebiet. David Sakvarelidze betont: Mit jedem Schritt einer Stärkung der Zivilgesellschaft, mit jedem Schritt Richtung Westen löst sich Georgien ein Stück aus dem unheimlichen Sog Moskaus. Jeder Schritt Empowerment von Bürgergesellschaft, Privatwirtschaft und unabhängiger Kunst ist auch ein Stück Befreiung vom russischen Druck. Und jeder Konzertbesucher in Tsinandale, jeder Tourist aus Deutschland, der nach Georgien kommt, trägt dazu bei, das Land resilienter zu machen gegen einen Rückfall in alte, unheilvolle Strukturen.