Anfangs komponierten sie mit der Schere: Das Festival Heroines of Sound feiert Komponistinnen
Die Partitur von Ron Grainer verspricht Spaß: Außer den Tonhöhen und Dauern ist nichts gesetzt. Nicht einmal an das vom Komponisten angedachte Instrumentarium soll sich Delia Derbyshire halten. Natürlich könnte sich der BBC ganz konservativ einige Studiomusiker:innen einkaufen, wie es 1963 üblich ist. Derbyshire hat aber eine ganz andere Vision.
Im wenige Jahre jungen „Radiophonic Workshop“ des britischen Rundfunkhauses, wo sie vor der Aufgabe steht, den Soundtrack zur neuen TV-Serie „Doctor Who“ zu produzieren, stehen schon die Oszillatoren bereit: neuartige Schwingkreise zur Erzeugung elektronischer Klänge. Daneben Verstärker, Filter und Tonbandgeräte. Fachmännisch verkabelt sie alles, drückt die Aufnahmetaste und „spielt“ die kühlschrankgroßen, teils gar nicht zu Musikzwecken gedachten Geräte über die schwarzen Bakelit-Drehregler.
Ton um Ton startet sie eine neue Aufnahme. Dann hört sie die Aufnahmen durch, macht sich Notizen, schneidet die Bänder in Stücke, verändert die Reihenfolge der Abschnitte. Mit weiteren Tonbändern macht sie Kopien, schichtet Klänge übereinander und klebt alles neu zusammen. Musikalisches Arrangement mit der Schere statt, wie damals üblich, dem Bleistift.
Manche Abschnitte klebt sie rückwärts wieder ein, bei anderen manipuliert sie Bandgeschwindigkeit und Tonhöhe, schickt alles noch durch ein Hallgerät und erzeugt so Klänge wie von einer anderen Welt. Schon im Vorspann zur ersten Folge der Science-Fiction-Serie „Doctor Who“ ist dem Fernsehpublikum klar, dass im Folgenden nichts gewöhnlich Irdisches zu erwarten ist. Grainer ist von Derbyshires Umsetzung seiner Partitur so beeindruckt, dass er von der BBC fordert, ihren Namen neben seinem im Abspann lesen zu können. Durchsetzen kann er sich damit nicht.
Noch heute lassen sich Nachwuchskünstler:innen von Derbyshires unkonventioneller Verwendung der Technik, die auch ihre Zweckentfremdung beinhaltet, inspirieren. Die Buchstabenfolge WWDDD ist 2010 auf der Haut einer Laptop-Performerin zu lesen, ein Kürzel für „What Would Delia Derbyshire Do“ – was würde Delia Derbyshire tun.
Denn, was sie tat, war ihrer Zeit voraus. Erst 1964 löteten die beiden Pioniere Robert Moog und Donald Buchla unabhängig voneinander ihre Oszillatoren, Filter und Verstärker so zusammen, dass sie im Verbund gesteuert werden konnten und schufen damit die ersten kommerziellen Synthesizer. Derbyshires Musik hört man nicht an, dass diese technischen Möglichkeiten noch fehlten.
Die Möglichkeiten, die sie hatte, waren wiederum einer anderen Pionierin zu verdanken. 15 Jahre Überzeugungsarbeit hatte es die Studio-Technikerin und Komponistin Daphne Oram zuvor gekostet, einen Raum für elektronische Klänge bei der BBC genehmigt zu bekommen – das Wort Musik durfte nicht an der Tür stehen, weil es zu Konflikten mit der Musikabteilung im Haus geführt hätte. Der Auftrag des 1958 von ihr gegründeten BBC Radiophonic Workshop war die Erzeugung von Klängen zur Untermalung neuer dramatischer Formate. Dennoch schufen Frauen wie sie selbst, Derbyshire, Glynis Jones und Maddalena Fagandini in diesen Räumen nach Betriebsschluss elektronische Musik, die noch heute nachhallt.
Aber nicht nur in London erschlossen sich Komponistinnen die neuen Technologien. Pauline Oliveros baute 1962 das San Francisco Tape Music Center mit ihren Kollegen auf. Dort baute Don Buchla bald darauf seinen ersten Synthesizer. Die dänische Komponistin und Widerstandskämpferin Else-Marie Pade arbeitete zu dem Zeitpunkt bereits mit Pierre Schaeffer und Pierre Henri, den Pionieren der „Musique concrète“ am Studio d’Essai des RTF in Paris zusammen.
Ebenda forschte auch die französische Komponistin Éliane Radigue schon in den 50er Jahren an bislang unerhörtem elektronischem Klangmaterial. In einem späteren Interview erzählte sie, dass sie selbst, und aus ihrer Sicht auch viele andere Frauen, sich der elektronischen Musik zuwandten, weil sie so den patriarchal strukturierten Orchesterbetrieb umgehen konnten. Keine Stardirigenten, erste Geigen oder alles besserwissende Tontechniker hatten mehr etwas zu melden, wenn die Komponistin auch Interpretin und Tontechnikerin ihres Werkes war.
Womöglich, weil ihre Musik den Autoren sogenannter Allgemeiner Musiklehren zu speziell ist, kommen diese, wie viele andere Komponistinnen in der Forschung und Konzertpraxis nur wenig vor. Das Festival Heroines of Sound bietet ihnen aktuell bereits zum zehnten Mal eine Bühne. Mit der Französin Pascale Criton steht diesmal eine Vertreterin der mikrotonalen Musik im Blickpunkt, über die man nicht zufällig stolpern würde – auf Tonträgern und Streamingdiensten ist ihre Musik kaum zu finden. Und das, obwohl die 1954 in Paris geborene, bei Wyschnegradsky, Grisey und Maria ausgebildete Komponistin seit Jahrzehnten auf allen wesentlichen Podien ihrer Sparte anwesend ist.
Komponiert Criton auch für klassische Instrumente und Ensembles, arbeitet etwa Jasmine Guffond mit modernen Varianten der Technik von Derbyshire und erschafft damit nicht bloß Schönklang als Selbstzweck. Mit vielen ihrer Arbeiten macht sie außermusikalische Vorgänge, mediale Funde oder Architekturen hörbar. Mag die Technologie heute noch so viel weiter sein, als zu Zeiten Delia Derbyshires. Der Geist, ihr mehr abzugewinnen, als im Sinne der Erfinder, greift auch hier, wenn man sich fragt: WWDDD?