Baseballschlägerjahre: Jugendroman über rechte Gewalt
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Körper zerfallen nach dem Tod, nach einigen Jahren ist von ihnen nichts mehr übrig. Aber was ist mit der Seele? Sie gilt in vielen Religionen als unsterblich, nie und nimmer kleinzukriegen. Man muss an keinen Gott glauben, um diese Vorstellung für tröstlich zu halten: dass etwas bleiben wird von den Menschen, die wir lieben.
Mario heißt der Held von David Blums Roman „Kollektorgang“. Seine ersten Worte lauten: „Ihr kennt mich nicht.“ Sie kommen aus dem Jenseits, genau wie die ganze folgende Geschichte dieses Ich-Erzählers, der keine 14 Jahre alt geworden ist. Zu jung, um die Chance gehabt zu haben, sich einen Namen zu machen.
Nun hockt er auf seinem Grab, unsichtbar für die Lebenden, die sich sowieso nur selten auf dem Friedhof blicken lassen. Erst werden Sträuße geworfen, klagt Mario, „dann kommt niemand, um die vertrockneten Blumen fortzuräumen“. Für die (Un-)Toten ist das Dasein vor allem eins: langweilig. „Man könnte uns Gespenster nennen oder einen Spuk“, scherzt Mario, „aber mit Ketten rasseln wir nicht.“
David Blum, der 1983 in Potsdam geboren wurde und heute in Leipzig lebt, ist für „Kollektorgang“, sein literarisches Debüt, gleich mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet worden. In seinem Buch gibt es noch keine Handys, es spielt in den Neunzigerjahren in einer Plattenbausiedlung, die zu einer Stadt gehört, deren Name nicht genannt wird.
Mario, der gerade sehr verliebt war und nach den Sommerferien auf ein Gymnasium wechseln wollte, hatte sein Leben noch vor sich, wie man so sagt. Er ist keines natürlichen Todes gestorben, die Hirnblutung, der er erlag, war die Folge einer Prügelei.
In der Nachwendezeit erstarkte in Ostdeutschland eine rechtsradikale Jugendkultur, aus der auch der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund hervorging. Nach einer Statistik der Bundesregierung starben bis 2020 mindestens 113 Menschen an den Folgen rechter Gewalt.
Diese „Baseballschlägerjahre“ sind inzwischen in vielen Büchern beschrieben worden, besonders eindrücklich von Manja Präkels in ihrem Nachwenderoman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“. Blums Buch ist verspielter und radikaler.
Weil das Geschehen ausschließlich aus Marios Perspektive geschildert wird, glaubt man, geradezu im Kopf dieses schlagfertigen, ironiebegabten Toten zu stecken. Manchmal rauscht eine Kaskade von Kindheitsszenen durch seine Erinnerungen, manchmal macht er sich über den Geist auf dem Grab nebenan lustig, Herrn Hoffmann, einen pensionierten Bauamts-Pedanten.
„Mein Leben“, sagt Mario, „das waren diese Blöcke.“ Gemeint sind die Wohnblöcke des Neubaugebiets, in dem er mit Mutter und Vater lebte. Der Vater hat seinen Job verloren und arbeitet nun „an seiner Leberzirrhose“.
Alles in dieser Welt ist eng und eckig, die Kinder spielen in den Innenhöfen, wo es nichts gibt als Wäschestangen und eine Schaukel. Bis Mario unter einem Balkon den Einstieg zu einem Kollektorgang entdeckt. Kollektorgänge sind unterirdische Versorgungswege. Betreten verboten. Ideale Rückzugsräume und Räuberhöhlen.
Das Wort „Gang“ hat noch eine zweite Bedeutung: Bande. Davon gbt es in der Siedlung. Die Skinheads, angeführt von Nicki, der gerne völkische Reden schwingt. Und auf der anderen Seite Mario, Stefan, Rajko und dessen Schwester Ema, die aus den postjugoslawischen Kriegen nach Deutschland entkommen sind.
Rajko ist ein versierter Boxer. Stefan wird sie verraten. Dramaturgisch funktioniert „Kollektorgang“ wie ein Krimi, der auf den Showdown zusteuert. „Angst“, weiß Mario, „kann alles vernichten.“ Er glaubt fest an die Liebe.