Vladimir Kornéev singt Edith Piaf: In Großmutters Bordell
Das Licht geht aus, die Musiker:innen nehmen Platz, der Sänger schreitet ans Mikrofon, Stille breitet sich aus in der Bar jeder Vernunft. Doch statt Gesang erfüllt eine Geschichte den Raum. Die Geschichte von Édith Giovanna Gassion. Geboren in den Straßen von Paris, verlassen von der eigenen Mutter, später weltberühmte Sängerin. Besser bekannt unter dem Namen: Édith Piaf.
Am Mikrofon steht Vladimir Kornéev. Seine rauchige Stimme zieht das Publikum in das Paris des frühen 20. Jahrhunderts hinein. Nebel zieht auf, Akkordeon und Klavier erklingen. Erst dann stimmt der Sänger die ersten Töne an: eine deutsche Version des Chansons „Comme un moineau“ – so wie ein Spatz –, der zwar nicht von Piaf ist, doch auf ihren Künstlernamen „piaf“ anspielt, ein französisches Wort für Spatz.
Eine Reise durch Piafs Leben
Kornéev führt das Publikum durch Piafs Leben. Die Lieder sind passend zu ihrem Lebenslauf arrangiert, die meisten stammen von ihr und sind auf Französisch vorgetragen. Doch Kornéev imitiert Piaf nicht nur, er gibt den Stücken eine eigene Note.
Am Ende seiner Interpretation des Lieds „Milord“, das er in den Kontext ihrer Zeit im Bordell der Großmutter setzt, geht er zu einem beinahe improvisiert wirkenden Ausdruck verschiedener Gefühle über. Von fauchenden Katzenlauten wechselt er zu dreckigem Lachen, fließt von jazzigem Scatten zu wildem Knurren und flirtet zuletzt anzüglich mit dem Mikrofon.
Der 36-Jährige demonstriert eine herausragende Kontrolle seiner Stimme. Seine Artikulation und Dynamik sind beeindruckend präzise. Oft lehnt er sich so weit vom Mikrofon zurück, dass fraglich ist, ob er es wirklich benötigt, um den Raum mit seiner Stimme zu füllen. Er schreckt nicht vor großen Gesten und intensivem Vibrato zurück, doch das Gesamtbild wirkt stimmig und unterstreicht die Emotionen der Lieder.
Auch die Leistung des Pianisten Markus Sypereks lässt sich hören. Zu Beginn der zweiten Hälfte stiehlt er Kornéev für einige Momente beinahe die Show, als er mit der linken Hand Klavier spielt und mit der rechten Hand die Melodica bedient, ein kleines Tasteninstrument, in das er über einen Schlauch hineinbläst.
Das minimalistische Setting aus Gesang, Piano und Akkordeon (Cathrin Pfeifer) erdet das Pathos der Chansons. Auch optisch hält sich der Sänger zurück. Seine dunklen Locken stehen leicht zerzaust vom Kopf ab. Er trägt einen schwarzen Anzug mit Kummerbund, nur das halbtransparente Netzhemd unter dem Jackett verleiht seinem Outfit einen pikanten Akzent.
Vom stotternden Kind zur Bar jeder Vernunft
Gelegentlich unterbricht Kornéev den butterweichen Tonfall seiner Piaf-Geschichten. In diesen Momenten scheint er ganz „Vladimir“ zu sein. Mit verschmitztem Lächeln spricht er zum Publikum, lässt ab von den theatralischen Gesten und freut sich bescheiden über den donnernden Applaus.
Vladimir Kornéev wurde in Georgien geboren, seine Eltern sind georgisch und russisch. Er kam mit sieben Jahren als Flüchtling nach Deutschland und landete in einem Asylantenheim in Augsburg. Angesichts seines heutigen Charismas ist es schwer vorstellbar, dass er als Kind stotterte.
Während der Schulzeit besuchte er Theatergruppen und lernte Klavier spielen. Seine spätere Musicalausbildung rüstete ihn für Gesang, Tanz und Schauspiel gleichermaßen. Er gewann Gesangswettbewerbe und spielte in diversen Serien und Filmen, zuletzt in der Netflix-Serie „Die Kaiserin“ in der Rolle des russischen Zaren Alexander II. In der Bar jeder Vernunft in Berlin debütierte er 2016 mit seinem französisch-russischen Programm „Lieder“.
Bei einigen Stücken setzt Kornéev sich am Dienstagabend auch selbst ans Klavier und demonstriert, wie vielfältig seine Talente sind. Er webt ein selbst geschriebenes Stück geschickt in den Piaf-Abend ein, indem er eine Parallele zu eigenen Lebenstragödien zieht. Auch Piafs vermutlich berühmtestes Stück „La vie en rose“ singt er allein am Klavier. Trotz Kornéevs Hang zu großen Emotionen beweist er hier: Manchmal ist weniger mehr.