„Unser Deutschlandmärchen“: Dinçer Güçyeter erhält den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse
Werkzeug steht im Zentrum dieser Geschichte. Werkzeug, das immer mehr Fatmas Körper durchsetzt, eine Mutter, die sich für ihre Familie kaputtarbeitet und nach einem Arbeitsunfall von immer „neuen Schrauben“ zusammengehalten wird. „Steife Werkzeuge“, mit denen deutsche und türkische Männer Macht ausüben, die Macht einer „Schwanz-Welt“, unter der die Mutter leidet und in die sie ihren Sohn Dinçer doch so sehr wünscht.
Arbeitswerkzeug, mit dem dieser Sohn schon als Achtjähriger die Finanzen der Familie aufbessert: ein Traktor, mit dem er bei der Gurkenernte hilft; ein Schraubstock, vor dem er später in seiner Ausbildung sitzt und in dem sich sein Leben und das seiner Mutter befindet. Im Würgegriff der Maschinen, des fehlenden Gelds und der fehlenden Zeit.
„Es wurden Arbeiter gerufen“, sang der Musiker Cem Karaca 1984, „doch es kamen Menschen an“. Dinçer Güçyeters „Unser Deutschlandmärchen“ erzählt die umgekehrte Geschichte: wie sich Menschen zu Arbeitern machten. Zu Werkzeugen des Wirtschaftswunders. Und wie sie jeden Tag darum kämpften, vor lauter Arbeit ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren. Zu Recht gewann der Roman den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse.
Motiv des Fremdseins
Wie der Autor absolviert auch die Figur Dinçer eine Ausbildung zum Mechaniker. Wie die des Autors, so spielt auch ihre Familiengeschichte in Nettetal an der Grenze zu den Niederlanden. Dort lebt Güçyeter noch heute und arbeitet in Teilzeit als Gabelstaplerfahrer, um den auf Lyrik spezialisierten Elif-Verlag zu finanzieren, den er 2011 gründete.
Dort gibt es im Buch auch für Vater Yılmaz Arbeit. In einer Gießerei fängt der an, bevor er das schnelle Geld machen will. Das scheitert, er verschuldet die Familie, eröffnet schließlich eine Kneipe, in der die Gäste auf Kosten des Hauses zechen. So muss Mutter Fatma zwei Jobs übernehmen.
Ständig wechseln im Buch die Formen und Perspektiven, auf ein Lied des „Gastarbeiterchors“ folgt der „erste Brief“ des Vaters an die Verwandten in der Türkei, ein paar Seiten weiter Familienfotos. Sind es biographische Dokumente des Autors?
„Autofiktion“, das Spiel mit dem eigenen Leben, ist ein Trend in der Literatur – und allzu oft ein leerer Trick, um Neugier zu wecken. In Güçyeters Werk hat sie, ebenso wie die Vielfalt der Erzählweisen, eine klare Funktion: Die disparate Form spiegelt eine disparate Erfahrungswelt.
Das Motiv des Fremdseins zieht sich durch den Roman. „Letztendlich ist es ein fremdes Land“, sagt Fatma, die Mutter der Hauptfigur, über Deutschland. „Du bist der Gast, der produzieren soll, dein Platz ist befristet, solange du funktionierst.“ In „Anatolien“, der „anderen Fremde“, sind sie dagegen längst nur „die Deutschen“, die Deo-Roller und Aldi-Parfum als Geschenk mitbringen.
Dort wird seine Mutter für Dinçer von der Verbündeten zur Gegnerin, zur Verteidigerin eines Patriarchats, in das er, der heimlich ihre Stöckelschuhe anzieht und um ein geschlachtetes Kalb weint, nicht reinpasst. Er beginnt, Gedichte zu schreiben, nach der Arbeit Theater zu spielen.
Auf der Spur der Enteigneten
„Diese Menschen“, warnt sie ihn, „die keine Ahnung von Mühe, keine Sorgen mit Geld haben, werden dich niemals aufnehmen, so wirst du in eine zweite Fremde in der Fremde einziehen“. Während sie ackert, um ihren Kindern das Gefühl des Überall-Fremdseins zu nehmen, wird dieses Gefühl für ihn zu etwas Erstrebenswertem.
Das Werkzeug, mit dessen Hilfe mehr Autoteile, Joghurtbecher, Klimaanlagen in weniger Stunden gebaut wurden, hat die einen reich gemacht und die anderen arm belassen. Den einen Zeit gespart und den anderen gestohlen. „Viele erlebten ihre Rückkehr nur noch im Sarg, viele sind verweht, ohne Zweige, ohne Wurzeln, sie tragen ihre verschwiegenen Geschichten mit sich.“ Dinçer Güçyeter verfolgt die Spuren dieser Enteigneten, dieser über alle Maßen Selbstlosen.