Film zur Reemtsma-Entführung: Der Krisenstab im Wohnzimmer
Schrecklich, so ein Vater, der über alles Bescheid weiß und aus dem Stand referiert, was für ein cooler Typ dieser Vergil war. Johann will, dass er aufhört mit den Nachhilfe-Fragen („Dativ oder Ablativ?“), er braucht doch nur eine Vier, morgen in der Latein-Arbeit. Vergil ist ihm egal, erst recht das Reclamheft mit der „Aeneis“, das der Vater ihm in die Hand drückt. Johann (Claude Heinrich) ist genervt, gegen die Bücher-Obsession von Jan Philipp (Philipp Hauß) hat er keine Chance. Ja, der Sohn sagt Jan Philipp, nicht Papa. Eine liberale Familie, reich, aber ohne Dünkel, ein ganz normaler Vater-Sohn-Streit.
Noch schrecklicher ist es allerdings, wenn Johanns erster Gedanke, als er nachts von der Mutter geweckt wird, der Lateinarbeit gilt und dass er sie nun gottlob nicht schreiben muss.
Jan Philipp ist entführt worden, sagt sie nüchtern und spricht von einem gemeinsamen Abenteuer. Johanns Schock paart sich mit der Scham ob seiner unangemessenen, „falschen“ Gefühle.
Hans-Christian Schmids Psychodrama „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ nähert sich dem spektakulären Fall der Entführung des Millionen-Erben, Mäzens und Sozialforschers Jan Philipp Reemtsma am 25. März 1996 aus der Sicht des 13-jährigen Sohns. Wie geht das, eine Pubertät im Ausnahmezustand, mit dem Krisenstab im Wohnzimmer? Das Drehbuch von Schmid und Michael Gutmann basiert auf Johann Scheerers gleichnamigem Memoir von 2018; der heute erfolgreiche Musikproduzent, der unter anderem mit Peter Doherty gearbeitet hat, veröffentlichte 2021 außerdem den autobiografischen Coming-of-Age- Roman „Unheimlich nah“.
Der Ausnahmezustand setzt sich für Johann aus Befremdlichkeiten und Banalitäten zusammen. Das Reclamheft, das er später in der Mülltonne sucht. Die „Angehörigenbetreuer“ mit den Decknamen Vera und Nickel: Man spielt Tischtennis, futtert Erdnüsse und guckt die Harald-Schmidt-Show. Die fürsorgliche Belagerung mit immer mehr Polizei, dem umtriebigen Rechtsanwalt Schwenn (Justus von Dohnányi) und Technikern für das fiepsende Fax-Gerät sowie das angezapfte Telefon, aus dem die verzerrte, kaum verständliche Entführerstimme quäkt. Die halbe Valium, die die Mutter (Adina Vetter) Johann gibt, damit er schlafen kann.
Hans-Christian Schmid hat sich in seinen Filmen, von „Nach fünf im Urwald“über „Requiem“ und „Was bleibt“ bis zur TV-Serie „Das Verschwinden“, als genauer Beobachter solcher Banalitäten erwiesen. Der 57-jährige Wahl-Berliner ist ein Meister des Unspektakulären, des Politischen im Privaten oder diesmal umgekehrt, der privaten Momente im schließlich vom Medienrummel umtosten Politikum des Reemtsma-Kriminalfalls.
Wieder steht eine Familie im Zentrum. Hansjörg Weißbrichs Kamera wird zum diskreten Mitbewohner einer Notgemeinschaft in Quarantäne – der Film wurde teils während der Lockdowns gedreht.
Nachrichtensperre, Abschottung von der Außenwelt, das bedeutet Langeweile für den schmalen, blassen Jungen. Nicht mal den besten Freund darf Johann sehen, geschweige denn die Punkband, für die sie gerade einen Namen gefunden hatten: Am kahlen Aste, AKA, zackig getaggt.
Die Außergewöhnlichkeit des Lebens setzt sich aus meist gewöhnlichen Momenten zusammen. Auch diese Entführung, die 33 Tage dauert und von Ermittlerpannen geprägt ist (Reemtsma schrieb aus seiner Perspektive das Buch „Im Keller“ darüber), löst Schmid in vermeintliche Unscheinbarkeiten auf. Wie die „Aeneis“ in der Tonne. Oder die offene Gartenpforte zu einem der beiden benachbarten Häusern, in denen Reemtsma, seine Frau Ann-Kathrin Scheerer und ihr gemeinsamer Sohn wohnen. Hierhin, in sein Arbeitsdomizil, ging der Vater „kurz noch mal rüber“, bevor er entführt wurde.
Der Junge registriert die Zermürbung der Erwachsenen
Johann wird selbst zum Beobachter, zum Zuschauer der eigenen Isolation. Vielleicht funktioniert dieser stille Film über ein lautes Ereignis deshalb so gut. Er registriert die zunehmende Überforderung der Erwachsenen, die Zermürbung seiner anfangs gefassten, unerschrockenen Mutter, selber Psychologin, nach Tagen des Wartens und mehrfach scheiternden Übergaben des Lösegelds in Höhe von 20 Millionen, später 30 Millionen Mark. Er bekommt mit, wie sie das Heft schließlich selbst in die Hand nimmt, sich mit dem Soko-Chef (Fabian Hinrichs) anlegt und die letzte, erfolgreiche Lösegeld-Übergabe ohne Polizei organisiert. Er nimmt wahr, wie die Erwachsenen ihre Angst überspielen und die Hilflosigkeit. Wie sie ihre blank liegenden Nerven kaum noch verbergen können.
Alle meinen es gut. Auch Sebastian, ein Freund des Hauses (Hans Löw), der anreist, um vor allem Johann zur Seite zu stehen und die WG mit Frankfurter Grüner Soße zu versorgen. Aber das eigentliche Dilemma können die Profis rund um Johann und seine Mutter nicht lösen: Ohne Spurenermittlung ist das Leben des Entführten noch mehr in Gefahr, aber wenn die Entführer die observierende Polizei bemerken, ist es das auch.
Das Zuhause wird zum Gefängnis der leise lauernden Angst. Einmal bricht Johann aus aus, um die Containerschiffe auf der Elbe zu betrachten. Und allmählich leert sich das Haus, Ann-Kathrin heuert Freunde an und einen privaten Sicherheitsdienst.
Der Dilettantismus der Polizei, Überorganisation und Unfähigkeit, Lösegeld-Touren bis nach Luxemburg, nächtliche Fahrten auf Feldwegen, Ausharren in einer Telefonzelle bei strömendem Regen: Schmids Film urteilt nicht über die Erwachsenen, verdammt die Behörden nicht, feiert auch nicht den Mut der Mutter, des Pfarrers und des Sozialarbeiters, die es am Ende richten können, als Heldentat. Er weiß es nicht besser als seine Protagonisten, psychologisiert nicht vordergründig, spitzt nicht zur Beinahe-Tragödie mit Happy-End zu, sondern harrt geduldig mit aus.
Bleiche Gesichter, verschattete Zimmer, nüchterne Behördenräume, Musik von The NoTwist, keine Vor- oder Rückblenden: Der Fokus auf das Kammerspiel im Hause Reemtsma genügt, um die Beklemmung und die Einsamkeit eines 13-Jährigen zu zeigen, dessen Kindheit in dieser Nacht vor der Latein-Arbeit mit einem Schlag zu Ende war.
Zur Startseite