Japan erwartet von Markus Rehm den Weltrekord
So laut habe sie ihn zuvor noch nie erlebt, erzählt die Leichtathletik-Trainerin Steffi Nerius. Normalerweise könne sich Markus Rehm immer gut kontrollieren. Aber die Entscheidung, dass der unterschenkelamputierte Weitspringer nicht bei den Olympischen Spielen starten durfte, war im Juli die Nuance, die seine Ausgeglichenheit einmal ins Wanken brachte. In der Augsburger Allgemeinen Zeitung sprach Rehm später davon, dass in einer ersten Reaktion „ein Handy durch den Raum geflogen“ sei.
Markus Rehm, zweifacher Paralympics-Sieger im Weitsprung und Sieger mit der 4×100-Meter-Staffel, war vom Deutschen Olympischen Sportbund als Mitglied der deutschen Mannschaft für Tokio gemeldet worden. Das Internationale Olympische Komitee hatte die Entscheidung an den Leichtathletik-Weltverband weitergereicht, die den 33-Jährigen jedoch für nicht startberechtigt erklärten. Seine Forderung, auch als Para-Sportler uneingeschränkt am olympischen Weitsprung-Wettbewerb teilnehmen zu dürfen, wurde unter Berufung auf die Regel 6.3.4, worunter eine Prothese ein mechanisches Hilfsmittel darstellt, abgelehnt. Rehm explodierte. Das Handy flog. Er zog vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas.
Die Doppelmoral der Vereine und großen Institutionen wie Leichtathletikverbände und Olympisches Komitee beim Thema Inklusion fallen auf. „Wenn es dann wirklich darum geht, Inklusion mal zu leben, dann ist das ‚wollen wir nicht‘ schon leider der Schwerpunkt“, sagt Nerius: „Der Inklusionsgedanke sollte wirklich gelebt werden.“ Neid und Missgunst würden aber zu sehr zwischen den paralympischen und den olympischen Athleten stehen.
„Ich lasse mich nicht von Behinderten schlagen.“ Diese Aussage fällt im Rahmen der Debatte um einen Doppelstart von Para-Sportlern immer mal wieder und zeigt eine der Kernproblematiken auf. Dabei geht es nicht darum, Prothesen mit Carbonschuhen zu vergleichen, oder „irgendwem eine Medaille wegzunehmen“, versichert Markus Rehm. „Es geht da rein um die Symbolik. Meine Medaille gewinne ich bei den paralympischen Spielen und das ist auch gut so.“ Rehm lässt keinen Zweifel an seiner Aussage. Doch der olympische Eid schreibt Inklusion in seine Leitlinien, trotzdem werden die Wettkämpfe streng separiert, die Berichterstattung ist nicht gleichwertig, Aufmerksamkeit fehlt.
Steffi Nerius ist stolz auf Markus Rehm
„Ich weiß, dass die Gesellschaft das braucht. Ich weiß auch, dass die Gesellschaft das eigentlich möchte“, sagt Markus Rehm. Dafür hatte er aber eigentlich nicht vor, bis vor den Internationalen Sportgerichtshof zu ziehen. Rehm ist der Überzeugung, dass über dieses Thema grundsätzlich nicht Juroren oder ein Gericht entscheiden sollten. „Man sollte sich da zusammensetzen und eine Lösung finden, die für beide Seiten gut ist.“ Seit mehreren Jahren schon tritt Rehm regelmäßig bei deutschen Meisterschaften der nicht-behinderten Sportler an – zum Teil außerhalb der Wertung. Trainerin Nerius erzählt, wie Rehm schon immer einen Meter weiter gesprungen sei als alle anderen, in seiner eigenen Startklasse. Die Vize-Olympiasiegerin im Speerwerfen von Athen 2004 weiß selbst, wie schwierig es sei, sich immer so zu motivieren, dass man weiter kommt. „Du kannst nicht die letzten Prozente rauskitzeln, denn manchmal macht es einfach dieses i-Tüpfelchen aus, dass da jemand ist, der dich herausfordert.“
2014 kam es laut „FAZ“ zu „einer Sensation“ in der deutschen Leichtathletik. Markus Rehm wurde in der Wertung der Nicht-Behinderten Deutscher Meister mit einer Weite von 8,24 Meter. Damit übertraf er den Europameister von 2010, Christian Reif, um vier Zentimeter. Steffi Nerius wirkt auch heute noch, sieben Jahre später, ehrlich überrascht. Sie ist stolz auf ihren Athleten Markus Rehm: „Er ist da wirklich über sich hinausgewachsen.“ Solche Momente sind es, in denen die Trainerin und Leiterin des Sportinternats in Leverkusen zum Telefonhörer greift und den Deutschen Leichtathletik-Verband anruft: „Er hat die Norm und es wäre schön, wenn er sich einfach mit den Besten messen könnte.“
Japan erwartet von Rehm einen neuen Weltrekord
Unabhängig davon, ob Rehm außerhalb der Wertung springt oder jemals auf dem Podest von Olympischen Spielen stehen könnte: Er ist das Gesicht des deutschen Para-Sports. Rehm ist weltweit ein Star. Zu den Paralympics in Japan begleiteten ihn seit vier Jahren die Japanerinnen und Japaner, kamen in Trainingslager, filmten ihn auf seinem Weg nach Tokio. Nerius beschreibt das Team wie eine große Familie, die immer mitlaufen würde. Japan wünscht sich bei seinem Wettkampf am Mittwochmittag deutscher Zeit (ab 13.25 Uhr/ZDF) nicht weniger als einen neuen Weltrekord von Markus Rehm. Doch dafür muss alles stimmen, die Luft wird dünn in den Sphären, in denen gesprungen, geflogen, gelandet wird.
Die optimalen Trainingsbedingungen und ein professionelles Umfeld findet Rehm am Stützpunkt in Leverkusen. Es ist die sportliche Heimat des Weitspringers. Mühsam baute Steffi Nerius das Leistungszentrum mit auf, als sie 2002 als erste hauptamtliche Trainerin im Para-Sport dort anfing. Briefe wurden an Gesundheitsämter geschickt, Schulen wurden kontaktiert. Antworten gab es keine. Stattdessen wurden Gesprächsrunden eröffnet, in denen es um Datenschutz ging. Kinderärzte meldeten sich zu Wort, es war ein schwieriger Start. Mittlerweile ist Leverkusen die unangefochtene Nummer Eins unter den Para-Sportstützpunkten in Deutschland.
Leverkusen verfügt heute über eine Anziehungskraft, die für sich spricht. Zahlreiche Athletinnen und Athleten, die im Para-Sport international Erfolge erzielen, wie Johannes Floors, Irmgard Bensusan, Léon Schäfer oder Markus Rehm, sind leuchtende Beispiele und Vorbilder für junge Sportlerinnen und Sportler. Rehm, selbst als Orthopädietechniker tätig, stellt Kontakte zu frisch amputierten Menschen her, Kooperationen mit Krankenhäusern werden eingegangen. Ein Austausch findet statt. „So wie unsere Athleten auch von Anfang an begleitet worden sind und jetzt richtig fit auf den Prothesen sind“, sagt Nerius: „So können unsere Athleten das jetzt auch für die Neuen machen.“
Rehm ist für Nerius eine Inspiration
Der Leistungssportgedanke muss dabei gar nicht im Vordergrund stehen. Genau das mache für Nerius auch die Besonderheit des Parasports aus. Es ginge vielmehr um Selbstbewusstsein und Akzeptanz, Toleranz, Sichtbarkeit und ein Lebensgefühl. Eine Begegnung ist Nerius in all den Jahren besonders in Erinnerung geblieben: Sie leitete eine Gruppe, in der es einen Sehbehinderten gab. Zehn Jahre später sagte die Mutter zu ihr, wie viel selbstständiger ihr Sohn nun durch sein Leben ginge. Er hätte eine ganz andere Orientierung im Raum, einfach nur durch die Bewegung, den Sport und die Entwicklung eines Körpergefühls. „Man kommt besser im Alltag zurecht, man ist selbstbewusster, geht ganz anders durch das Leben“, sagt Nerius, für die Rehm einfach eine Inspiration ist mit dem, was er mit seiner Prothese alles machen kann. „Es ist dann schon das Megaevent, wenn man das erste Mal (nach einer Amputation, Anm.d.Red.) wieder auf dem Fahrrad sitzt – und dann siehst du, wie einer halt 8,62 Meter weit springt.“
Es seien genau solche Vorbilder, die dem Nachwuchs „die Kraft und Motivation geben, sich nicht hängen zu lassen“. Rehm appelliert mit seiner inspirierenden Art an all die Kinder und Jugendlichen, die ein Ziel vor Augen haben, dass sie sich von keinem Menschen kleinreden lassen sollen, „lasst euch nicht vorschreiben, was ihr sollt und was nicht“.
Auch Rehm, dem seine Professionalität bei jedem seiner wohlbedachten Wort anzumerken ist, musste und muss mit Kritik kämpfen. Jeden Tag aufs Neue ist es weiterhin notwendig für ihn zu beweisen, dass seine außergewöhnlichen Weiten nicht allein Zeugnis der Technik sind, sondern harte Arbeit, Einsatz und Wille, die diese Ausnahmeleistungen ermöglichen. So wie Rehm seine Prothese perfekt anpassen kann, so versucht er auch, seinem Umfeld, der nächsten Generation einen Weg mit weniger Hürden zu bereiten. Er sorgt für eine größere Wahrnehmung des Behindertensports in der Gesellschaft. Hofft auf weniger Situationen, in denen sich Leute für ihre Besonderheiten und Talente rechtfertigen müssen. Er will nur das eine: das Über-sich-hinauswachsen, das Ertasten der Leistungsgrenzen und den Mut aufbringen, sich selbst zu beweisen, zu was man fähig sein kann. Wenn man sich nur traut.
Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.