Ulrich Gregor zum 90. : Die Liebe zum Weltkino
Die Eigenschaft, die sein Wesen vielleicht am meisten auszeichnet, ist die Treue. Ulrich Gregors Leben ist von der unverbrüchlichen Treue zum unabhängigen Film geprägt, zu jenem Urbedürfnis, Filme zu sehen, verbunden mit dem Impuls, geliebte Werke anderen Menschen zugänglich zu machen und mit ihnen zu teilen.
Ob bei den studentischen Filmclubs, die er in den 50er Jahren in Hamburg und an der FU Berlin betrieb, im zusammen mit seiner Frau Erika Gregor gegründeten Verein der Freunde der Deutschen Kinemathek, dem seit 1970 betriebenen Arsenal-Kino und bald darauf dem Forum der Berlinale, lange kämpferisches Gegenprogramm zum offiziellen Wettbewerb – der Impuls blieb immer der Gleiche.
Gregors Treue gilt auch den Regisseurinnen und Regisseuren. Sie kamen gerne immer wieder zum Berlinale-Forum und ins Arsenal, die großen Osteuropäer – in der Filmwelt der Gregors war der Eiserne Vorhang nur ein lästiges bürokratisches Hindernis – und die Defa-Dokfilmer genauso wie die Autorenfilmer:innen aus Indien, aus Lateinamerika, Afrika und Europa. Ulrich Gregor und seine Frau wissen Freundschaften zu pflegen, mit Aki Kaurismäki mailen sie sich noch heute.
Die verhaltene Stimme, die formvollendete Höflichkeit, man unterschätzt ihn leicht. Wenn er zum Talk nach den Forums-Vorstellungen am berühmten Resopaltischchen auf der Bühne des Delphi Platz nahm, musste man schon die Ohren spitzen, um seine präzisen Fragen zu hören. Kaurismäki schwieg sich an diesem Tisch öfter mal aus, und Ulrich Gregor hörte ihm geduldig zu.
Leise, weise, beharrlich: Der schlanke, hochgewachsene Mann hat etwas von einem Grandseigneur – der gebürtige Hamburger studierte Romanistik unter anderem in Paris, wo er seinen ersten Filmhunger in der Cinémathèque stillte. Dank seiner Überzeugungsgabe und Zähigkeit wurde er zu einer der prägendsten Figuren der deutschen Nachkriegs-Filmszene. Drei Jahrzehnte währte die Gregor-Ära im Arsenal und im Forum, bis 2000 war Gregor neben Moritz de Hadeln dann auch Berlinale-Chef.
Ein nimmermüdes Engagement, immer in Arbeitsteilung mit seiner Frau. Sie prescht vor, er argumentiert und lässt nicht locker: Anschauen kann man sich die beiden zur Zeit im Kino, in Alice Agneskirchners Dokumentarfilm und Hommage „Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors“.
Noch ein Treuebeweis: Ulrich und Erika Gregor sind seit 1960 verheiratet. Kennengelernt haben sie sich an der FU bei einer Vorführung von „Menschen am Sonntag“, sie widersprach ihm bei der Diskussion, er lief ihr hinterher. Über den Film streiten sie immer noch.
Beide wurden im Krieg sozialisiert, für beide waren die NS-Verbrechen ein Schock, der bis heute andauert und der sie ein für allemal politisiert hat. Der wichtigste Film ihrer Forums-Jahre war Claude Lanzmanns „Shoah“. Und sie sitzen weiter gemeinsam im Arsenal, zuhause vor dem Monitor oder in Festivalkinos. Er flüstert ihr die Untertitel zu, denn ihre Augen haben nachgelassen, auch das kann man in Agneskirchners Film miterleben.
Die Augen öffnen, auch gegen Widerstände, den Blick weiten, zurück in die verdrängte Zeit, hinein in die unendlichen Landschaften des Weltkinos, auch diesem Anspruch ist Ulrich Gregor immer treu geblieben. Das deutsche Kino wäre ärmer, engstirniger ohne den Filmhistoriker, Kritiker (seine TV-Kritiken für den Tagesspiegel gab er in den 50ern am Telefon durch), Kino- und Festivalmacher Ulrich Gregor.
Filme schauen, heißt, sich auf den Weg machen, das haben wir von ihm gelernt. Geboren ist er 1932, den Jahrgang teilt er mit seinen Weggefährten Alexander Kluge und Edgar Reitz. Seinen 90. Geburtstag an diesem Sonntag feiert er im Kino, wo sonst: Das Arsenal lädt zur Matinee um 11 Uhr, mit Festreden und einem von Ulrich Gregor kuratierten Kurzfilmprogramm.
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