In der Tiefe der Empfindungen
Man kann sich dem neuen Roman des Schriftstellers Joshua Groß über die Genussmittel nähern, die sein gleichnamiger Erzähler konsumiert. Joshua nimmt LSD, raucht eine Menge Marihuana, trinkt am liebsten Espresso mit Schlagsahne und lutscht mit heiligem Ernst Chupa Chups, für die er sich sogar ein eigenes Täschchen gebastelt hat. „Das war ein bisschen druidenhaft, na ja, aber auch mondän und komplett sinnlos und geil.“
Die Entscheidungen, was man dem eigenen Körper zuführt, folgt bei ihm der Agenda einer entschlossenen Infantilisierung. Es gilt, das Verhältnis zur eigenen Umwelt zu pflegen, „komplett strömungsfähig zu werden“, und für dieses Ziel erscheint die Rückkehr in kindliche Verhaltensmuster als geeignetes Mittel: als Schritt in eine biografische Epoche, in der Abstrakta noch greif- und fühlbar waren, in der man Freude lutschen konnte.
Das eigentliche Drama vollzieht sich im Hintergrund des Buches
Der Wunsch, sich zu spüren, motiviert mithin beiderlei: den Zuckerschock genauso wie das Anlegen einer Sammlung von Bildern mit Karies befallener Zähne und den darauffolgenden Ekel. Hauptsache, die Wahrnehmung ist intensiv.
„Prana Extrem“ ist zugleich ein autofiktionales wie fantastisches Werk, dabei so spektakulär wie banal. Joshua begleitet seine Partnerin Lisa (Wer möchte, darf in dieser Figur die Autorin Lisa Krusche erkennen) zu einem Stipendium nach Tirol. Dort freunden sie sich mit dem Skisprungtalent Michael sowie dessen Schwester und Trainerin an und verbringen den Sommer in deren Elternhaus.
Die Partnerin der Gastgeberin, eine Astronautin der ISS, die exzentrische Großmutter des Erzählers und ein verzogenes Kind stoßen noch hinzu. So vergeht der Sommer, ohne dass allzu viel passiert. Lisa schreibt an ihrem Roman, Joshua bekommt einen geklauten Meteoriten geschenkt, Michael muss sich gegen den Willen seines Vaters behaupten und trainiert fleißig für die österreichische Meisterschaft.
In Exkursen berichtet der Erzähler vom Leben und Sterben der von ihm verehrten (fiktiven) Erzählerin Gertrude Rhoxus, die treue Leser bereits aus dem Vorgängerroman von Groß, „Flexen in Miami“ kennen. So viel zur schmal bemessenen Handlung.
[Joshua Groß: Prana Extrem. Roman. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022. 300 Seiten, 24 €.]
Das eigentliche Drama vollzieht sich eher im Hintergrund des Buches und treibt den Figuren gleichwohl den Schweiß auf die Stirn. Es beginnt damit, dass Lisa und Joshua die eigentlich nur in Afrika verbreitete Aloe-Pflanze entdecken. In den kommenden Monaten herrscht Dürre, die Wiesen vertrocknen, der Asphalt verflüssigt sich, die Atmosphäre färbt sich dunkelgelb, die Evolution bekommt Schluckauf und spuckt Riesenlibellen über der Alpenlandschaft aus.
Man darf „Prana Extrem“ als Entwurf eines gelungenen Lebens in der Klimakrise verstehen. Dieses zeichnet sich kaum durch Hemmungen oder Schuldgefühle aus. Mit sich völlig im Reinen, brettert Joshua im SUV durch die Landschaft. Die Antwort der Figuren auf den ökologischen Niedergang hat nichts mit Konsumverhalten oder Emissionen zu schaffen.
Sie besteht vielmehr in einer Arbeit am Ich, in einem Abbau dessen Grenzen mit dem Ziel maximaler Permeabilität. „Obwohl die Libelle riesig war, kam sie uns nicht monströs vor; sie war nur die Ausgeburt einer mutierenden Welt. Wir selbst waren es, die uns darin anpassen mussten. Wir atmeten ruhig, ohne Schauder.“
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Joshua ist längst bewusst, dass keine Rettung mehr kommen wird, dass die Temperaturen nur immer weiter steigen werden. Wenn sich aber jeder Gedanke an ein Morgen, das dem Gestern gleicht, verbietet, dann gilt es, das Jetzt nur umso aufmerksamer und wertschätzender zu erkunden, um in ihm Auswege zu entdecken.
Der Erzähler wünscht sich „in die Zeitmuster der mutierten Libelle überzugehen, in ihre neuronalen Anordnungen“. Von hier ist es nicht weit zu posthumanistischen Philosophinnen und Philosophen wie Rosi Braidotti, Eugene Thacker oder der im Buch zitierten Donna Haraway, die davon träumen, die Ratio und mit ihr Homo sapiens in Gänze abzuschaffen, um Symbiosen mit Maschinen, Pflanzen und Tieren einzugehen.
Mit viel Übung gelingt sogar das Jonglieren mit Antimaterie
Derlei Theorien treffen vor allem unter Künstlern auf Begeisterung, woraus zwar oft Esoterik und Kitsch resultiert, wenigstens aber ein Gegengewicht zur lauen Kunstskepsis dieser Tage entstehen könnte. Selbst vielen, die sie betreiben, ist Kunst mittlerweile verdächtig, steht sie doch in der romantischen Tradition einer Entfesselung, die sich nur schwer mit einem politischen Anspruch verbinden lässt, der auf die Wahrung identitärer Grenzen pocht. Die Selbstbezeichnung Künstler weicht daher in jüngeren Jahrgängen zunehmend der des Artivisten oder gleich des Aktivisten.
Auch wenn der Posthumanismus stark vom Feminismus geprägt ist, formuliert von ihm inspirierte Literatur, wie sie Joshua Groß hier vorlegt, nun ein Gegenangebot zum politischen Engagement, indem sie die verabschiedeten Ressourcen der Kunst wieder erschließt. Prana Extrem, das ist ästhetisches Fracking. Gut gelaunt zapft Groß die romantischen Energiequellen wieder an und beschreibt das Leben selbst als ästhetische Aufgabe mit dem Ziel, Existenz neu zu definieren.
Gesellschaftliche Fragen stehen zurück, zunächst gilt es, neue Gemeinschaften zu bilden. „Sehnsucht“, das Wort fällt oft und deutet in Richtung des Ziels dieser Reise: in die Tiefe von Empfindungen, in eine Welt, in der das Wort Wirklichkeit nur deren oberste Schicht bezeichnet. Eine solche Erfahrung kann sich beim Knacken eines Lutschers genauso einstellen wie beim Sex oder beim Springen vom Zehnmeterturm, in allen Zuständen also, in denen die Vernunft für Augenblicke außer Kraft gesetzt ist.
Endlich sind die Naturgesetze überwunden und der Weg ins Offene steht frei. Joshua gelingt es mit beharrlicher Übung schließlich sogar, mit Antimaterie zu jonglieren. Und beweist damit leichthin, dass Hoffnung schon für den lächerlichen Preis des Verstands zu haben ist.