Utopien in den Randbezirken der Realität
Filme sind Behausungen. Im Garten des Silent Green lädt ein kleines Zelt zum Hineinschlüpfen ein. Es ist das Zelt von Sandrine Bonnaire in „Vogelfrei“, die Planen bestehen aus Zelluloidstreifen eben jenes Films von Agnès Varda, mit dem sie 1985 den Goldenen Löwen gewann. Das Filmmaterial, im digitalen Zeitalter zum Abfallprodukt geworden, ist auf diese Weise zum Refugium recycelt. Auch der Rucksack der jungen Landstreicherin liegt noch da. Weiter hinten, Richtung Friedhof, beherbergt eine Holzhütte einen Grabhügel samt Video-Installation für Vardas geliebte Katze Zgougou. Ein Mausoleum für eine Katze, das deutsche Wortspiel hätte Varda bestimmt gefallen.
Agnès Varda, „Agnès war da“ – auch das von Kuratorin Julia Fabry im Katalog kreierte Wortspiel hätte die Filmemacherin gemocht. Die kleine, fröhliche, schwatzhafte Agnès, wie sie ihre Rolle in Dokumentarfilmen wie „Die Strände von Agnès“ oder „Varda par Agnès“ charakterisierte, liebte Wortspiele und Kofferwörter, das leichthin Fabrizierte der Sprache – und der Bilder, die sie evoziert.
Und sie ist ja immer noch da. Am Fuß der Rampe hinunter zur Betonhalle öffnet Varda einen Plastikvorhang – eben jenen Vorhang, auf den der kurze Video-Loop projiziert ist – und kommt der Besucherin entgegen. Gleich dahinter liegt der Strand, einer ihrer geliebten Strände: Das Atlantikfoto läuft in Videowellen aus, in eine echte Sandfläche hinein. Wenn man Menschen öffnen könnte, würde man Landschaften vorfinden, hat sie einmal gesagt.
Die von Julia Fabry und Dominique Bluher kuratierte Ausstellung im ehemaligen Krematorium im Berliner Wedding ist dem „Dritten Leben der Agnès Varda“ gewidmet, flankiert von einer Filmreihe im Arsenal-Kino. Man kennt die 2019 mit 90 Jahren gestorbene Pionierin der Nouvelle Vague vor allem als Regisseurin und als Fotografin. Hier wird nun erstmals umfassend ihre Bildende Kunst präsentiert.
Sie ist ähnlich autobiografisch gefärbt wie ihre Kinowerke: ein Schlangenlinien-Parcours mit Videos, Assemblagen, Triptychons, Filmstill-Serien und dem Polyptichon „Die Witwen von Noirmoutier“, inspiriert von frühen Tafelgemälden. Das zentrale Video mit den am Strand schreitenden Frauen ist von 14 Projektionen umrahmt, an jedem der 14 Stühle davor hängt ein Kopfhörer. So kann man den auf der Atlantik-Insel lebenden Frauen lauschen, wie sie von sich erzählen. Noch eine Wiederverwertung: Ihr Dokumentarfilm von 2006 basiert auf diesem Material.
Am schönsten ist Vardas Kartoffelkunst
Vorbei an Vardas eigenwillig-heiteren Selbstporträts von 1949, 1962 und 2009 – als römisches Mosaik, als Renaissance- Profil in einem Bellini-Gemälde, als Spiegelsplitter-Konterfei – geht es zunächst zu ihrer Fotoserie mit gehenden Menschen aus den 50er Jahren. Eine Portugiesin, wieder am Strand, trägt eine Waschschüssel auf dem Kopf mit ihrem Kind darin; ein chinesischer Wasserträger findet sich neben Frauen mit riesigen Heubündeln. Körper in Bewegung, in stillen Schwarz-Weiß- Aufnahmen, für diese Spannung hat Varda sich immer interessiert.
Am schönsten: ihre Kartoffelkunst. Beim Dreh von „Die Sammler und die Sammlerin“, der die Filmreihe am Samstag eröffnet, freute sie sich über die Erfindung der Digitalkamera. Ohne Aufwand konnte sie sich jenen Menschen nähern, die von Abfällen leben, von dem, was übrig ist, auf den Müllhalden der Wohlstandsgesellschaft. Dabei entdeckte sie deformierte Kartoffeln, die meist weggeworfen wurden, Kartoffeln in Herzform. Sie bewahrte sie auf, ließ sie vergammeln, fotografierte die skurrilen Gebilde mit schrumpeliger Haut, üppig wuchernden Keimen und lila Wurzelfasern. Wunderwerke der Vergänglichkeit, denen sie mit ihrem Triptychon „Patatutopia“ huldigte, 2003 auf der Biennale Venedig.
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Auch ihre Foto-Serie mit auf Kürbis-Podesten arrangierten Kartoffelherzen ist im Silent Green zu sehen – und gleich ums Eck bisher unveröffentlichte Schnappschüsse aus dem bayerischen Dinkelsbühl von 1960. Menschen in der Kleinstadt, Kinder, Passanten, Arbeiter, Lieferanten – auch das ein Abfallprodukt ihrer unstillbaren Neugier. Eigentlich war sie in Dinkelsbühl als Fotografin im Auftrag des Magazins „Réalités“ unterwegs. Manchmal bezog sich die Neugier auch auf die eigene Arbeit. So ging sie der Geschichte hinter ihrem Kuba-Foto von 1954 – eine tote Ziege am Strand mit offenem Auge, im Bildhintergrund ein Mann und ein Junge, beide nackt – 28 Jahre später im Kurzfilm „Ulysse“ nach.
(Silent Green: 10.6. bis 20. 7., Mo – Fr 14 – 20 Uhr, Sa – So 12 – 20 Uhr. Katalog 32 €. Arsenal-Reihe mit sieben Langfilmen, zwei Kurzfilmprogrammen und „Varda par Agnès“, online im Arsenal 3: 11.6. bis 17.7.)
Blicke, Erinnerungen, Kopfkino, Träume. Das Utopische in den Randbezirken der Realität, auch das Politische, in ihrer Installation „Hommage an die Gerechten“ für das Pariser Pantheon, das zusätzlich ab 10. Juli in der Kuppelhalle zu sehen sein wird: Die Katalogaufsätze der Kuratorinnen skizzieren Vardas Kosmos, ihren Humanismus, dessen Echoräume und Inspirationen. Zum Beispiel trug sie die Bücher des Philosophen und Träumerei-Experten Gaston Bachelard, bei dem sie studiert hatte, auch auf Reisen mit sich herum. Gelesen hat sie sie nie.
Und da steht sie wieder, am Rand des Parcours, in ihrem Kartoffelkleid, mit dem sie 2003 bei ihrem Debüt als Bildende Künstlerin die Biennale-Besucher verblüffte. Varda, eine wandelnde Kartoffel: Wer nahe genug an die kostümierte Figur herantritt, hört ihre Stimme, wie sie die Namen alter Kartoffelsorten rezitiert. Eine Litanei der Lebensmittel, es soll ja nichts verloren gehen.