Nach Rumänien auswandern: Dorothee Rieses starkes Romandebüt „Wir sind hier für die Stille“
Weil es im Dorfladen nur einmal in der Woche Brot gibt, kommen die Frauen von Sarmizegetusa neuerdings ans Tor von Nr. 26, dem verlassenen Hof, in den sich die Familie aus Deutschland einquartiert hat. Als Anna ihr letztes Brot weggegeben hat und den sorgenvollen Blick ihres Mannes sieht, sagt sie: „Wir sind hier für die Stille, nicht für das Brot.“
„Wir sind hier für die Stille“ ist auch der Titel des Romandebüts der 35-jährigen Autorin Dorothee Riese. Erstaunlicherweise ist es in dieser Saison schon das zweite Werk, das auf der Grundlage biografischer Erfahrungen vom Aufwachsen im postkommunistischen Rumänien der frühen neunziger Jahre erzählt.
Doch während in Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ die Freundschaft der jugendlichen Protagonisten durch die endlich offenen Grenzen auf die Probe gestellt wird, geht es in Dorothee Rieses Roman um eine Art Lebens- und Erziehungsexperiment in entgegengesetzter Richtung, von West nach Ost.
Denn anders als das Gros der Rumänendeutschen und Siebenbürger Sachsen, das in jenen Jahren in der Hoffnung auf ein besseres Leben gen Westen zieht und entleerte Dörfer zurücklässt, migriert in Rieses Roman eine dreiköpfige Familie aus dem stockkonservativen Bad Rosau in die siebenbürgische Provinz, an den Rand der Karpaten.
Antikapitalistische Idealisten
Kurt und Anna sind antikapitalistische Idealisten, deren Nachname Schiller wohl als sprechend zu verstehen ist. Sie waren schon Außenseiter, als sie noch in Deutschland in Bauwägen hausten, sich streng vegetarisch ernährten und mit ihren Nazi-Großeltern stritten. Jetzt hoffen sie, in Transsylvanien ein unverfälschtes, solidarisches Leben zu finden. „Judith und ihren Eltern gefiel das Teilen. In Bad Rosau hatte jeder alles für sich haben wollen. Hier in Rumänien teilten alle.“
Der Vater geht bevorzugt barfuß, zum Spott der verbliebenen Siebenbürger Sachsen im Dorf, weil ohne Schuhe hier nur die „Rotzigen“, die Roma, herumlaufen; die Mutter kann es gar nicht abwarten, bald auch so raue Hände zu bekommen wie die Frauen im Dorf. Mit dabei ist die zu Romanbeginn etwa fünfjährige Tochter Judith, aus deren Froschperspektive der Roman erzählt ist.
In Göttingen geboren, in Rumänien aufgewachsen
Dorothee Riese, 1989 in Göttingen geboren und in Rumänien aufgewachsen, imitiert in ihrer spröden Prosa den ranzig-staunenden Blick ihrer heranwachsenden Protagonistin, die fortwährend versucht, das verworrene soziale Geflecht der opaken multiethnischen Lebensverhältnisse und Konflikte im Dorf zu verstehen.
Diese Konflikte können jederzeit in Gewalt umschlagen, umso schwerer ist es für die Progatonistin, hier ihren Platz zu finden. Zumal auch sprachlich alles sehr verworren ist in dem Dorf, das für die einen Sarmizegetusa, für die anderen „Waldlichten“ heißt. Denn neben dem Rumänischen und dem Deutschen gibt es noch das Kauderwelsch der Roma, das „limba romani“, oder seltsame Wörter, die sich Judith heimlich in ein Notizbuch notiert wie „Securitate“ oder „Verschleppung“. „Und dann gab es noch dieses Wort, das sie im Dorf nur hintenrum sagten, manchmal aber auch vornrum, dann spuckten sie es auf den Boden. Judith sagte das Wort nicht, selbst wenn Besuch kam und fragte, was es damit auf sich hatte.“
Ungewöhnlicher Coming-of-Age-Roman
Zu denen, die so verächtlich reden, gehört etwa die eigentlich liebenswerte alte Sächsin Lizitanti, die sich an ihre Zeit in sowjetischer Deportation erinnert und für Judith zu einer Ersatzoma wird. Oder der Staatsfarmler und Dauerprofiteur Costache, der in Judith die ideale Spielgefährtin für seine Tochter Blanca sieht, und der Pfarrer, der auf Kurts Frage, warum man die in Hütten hausenden Roma nicht in die verlassenen Höfe der Sachsen einziehen lässt, lapidar antwortet: „Kurt, in diesem Land muss jeder seinen Platz haben, das musst du begreifen.“
Dennoch wird gerade eine Romni zu Judiths bester Freundin. Irina muss als Tochter einer alleinerziehenden Mutter am Dorfrand früh Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen; Judith und ihre Mutter versuchen dennoch alles, ihr die Teilnahme am Schulunterricht zu ermöglichen, den Vorurteilen der Lehrerin zum Trotz: „Ich wundere mich nicht, dass diese Frau die Kinder nicht in die Schule schickt, aber Sie können das natürlich nicht verstehen, Sie kennen die Leute hier nicht.“
Dass Judith, die sich Sprache und Geschichte Rumäniens anzueignen sucht, gegenüber ihrer Freundin privilegiert ist, wird spätestens dann klar, als sie es ist, die Jahre später einen Platz auf dem Internat bekommt und nicht Irina.
Zu diesem Zeitpunkt steht es um die Mädchenfreundschaft längst nicht mehr zum Besten, wie auch der Platz der Eltern im Dorf trotz oder gerade wegen ihres Willens zu helfen immer fragiler wird: Auf den Plan einer Suppenküche für die Ärmsten folgt das Projekt „Aufsuchende Mützenarbeit“; die Frauen stricken Kopfbedeckungen, die Kurt und Anna auf deutschen Weihnachtsmärkten verkaufen. Nur dass bald schon im Dorf heißt, die Deutschen würden sich am Verkauf bereichern, und das Mützenlager in Flammen steht.
Dorothee Rieses „Wir sind hier für die Stille“ ist somit nicht nur ein faszinierender Roman über Fremdsein und Identität, Armut und Ausgrenzung oder die Naivität westlichen Aussteigertums. Ihr Werk ist auch ein höchst ungewöhnlicher Coming-of-Age-Roman. Ein starkes Debüt.