Leben ohne Schubladen – und ohne Scham
Es läuft nicht bei Russell. Der große Durchbruch als Schauspieler ist ausgeblieben, er ist pleite, und mit seinem erfolgreichen Freund Justin ist auch Schluss. Schlecht gelaunt steht er bei seiner Großmutter Margaret auf der Matte, die ein geräumiges Haus in der Weinregion Kanadas bewohnt. Eigentlich will Russell nur ihr Auto haben, bleibt dann aber doch länger.
Tagsüber hilft er der hochbetagten Margaret im Haushalt, abends legt er sein Make-Up auf, zieht die Perücke gerade und macht sich auf den Weg in die einzige queere Bar weit und breit. Fishy Falters heißt sein Alter Ego und es scheint, als wäre Russell nur als Drag Queen im Licht der Scheinwerfer wirklich am Leben. „Bei Drag geht es gar nicht so sehr darum, wie oder wen du fickst“, erklärt er neuen Bekanntschaften in der Bar. „Sondern darum, ,fick dich’ zu sagen zu den Schubladen und der Scham.“
Die Geschichte des missverstandenen jungen Mannes, der einfach nur seiner Leidenschaft nachgehen will und dafür von der Gesellschaft verlacht wird, ist freilich nicht neu. Der Twist, der Phil Connells Regiedebüt „Jump, Darling“ vor dem Klischee rettet, kommt in Form seiner zweiten Hauptfigur: Margaret. Die intelligente, sarkastische Frau muss miterleben, wie ihr die Kontrolle über ihr Leben langsam aus den Händen gleitet. In ihrem Haus findet sie sich immer schwerer zurecht, als Russell kommt, hat sie sich gerade am Gasherd die Haare versenkt. Und während sie früher beim Bridge unschlagbar war, kann sie dem Spiel jetzt nicht mehr folgen.
Cloris Leachman glänzt in ihrer letzten Hauptrolle
Im Laufe des Films wird deutlich, was die auf den ersten Blick so ungleichen Charaktere verbindet: das Streben nach Selbstbestimmung. Er will sich nicht länger schämen, sie will ihr Leben nach ihren Vorstellungen beenden und nicht im Seniorenheim, wo Russells gut meinende Mutter (Linda Kash) sie gerne unterbringen würde. Phil Connell erzählt diese kleine Geschichte mit viel Einfühlungsvermögen. Er sei inspiriert gewesen von Gesprächen mit seiner Großmutter an ihrem Lebensende, und von seinem Weg als queerer Filmemacher.
Nicht alles funktioniert in „Jump,Darling“. Einige Themen bleiben an der Oberfläche, etwa, wie psychische Krankheiten über Generationen hinweg vererbt werden, oder eine mögliche Alkoholsucht Russells. Auch die Nebenrollen sind recht dünn gezeichnet, sei es Russells neuer Flirt Zachary, die stets besorgte Mutter oder sein versnobter Ex Justin, der Drag als „Zirkuskram“ bezeichnet. Spätestens seit dem enormen Mainstream-Erfolg von „RuPaul’s Drag Race“ wirkt Justins absolute Ablehnung von Russells Leidenschaft schwer nachvollziehbar.
Sehenswert machen das Drama die beiden Hauptdarsteller:innen. Der Newcomer Thomas Duplessie überzeugt vor allem als Fishy Falters in langen, kunstvoll gefilmten Lip-Sync-Performances. Aber „Jump, Darling“ ist eindeutig der Film von Cloris Leachman. Ihre Margaret ist zart und zerbrechlich, trotzdem bewahrt sie sich bis zuletzt ihren Stolz und scharfen Witz. Eine berührende Performance der Oscar-Gewinnerin und eine würdige letzte Hauptrolle: Cloris Leachman ist im Januar 2021 im Alter von 94 Jahren gestorben.