Zweifler aus Prinzip: Eine gigantische Retrospektive zum Werk von Gerhard Richter
Der Mann auf den Fotos sieht mehr nach einem gehobenen Beamten, denn nach einem Künstler aus – gestreiftes Hemd, Hosenträger und Velourleder-Blouson. Klecksende Maler mögen ein Klischee sein, aber Zeitgenossen von Gerhard Richter haben es eifrig bedient: Günther Uecker etwa, wie Richter im Rheinland zu Hause, stieg für jedes Interview in eine weiße, mit Farbspritzern übersäte Latzhose.
Sein Kollege setzte sich dagegen schon zu Düsseldorfer Akademiezeiten von jeder Idee ab, wie ein Künstler auszusehen habe. Er war ja auch ein Außenseiter. Als Richter dort 1961 für wenige Jahre sein Studium aufnahm, hatte der 1932 Geborene schon eine solide Ausbildung an der Kunstakademie Dresden hinter sich: ordentlich figürlich, sozialistisch, realistisch. Die Flucht in den Westen katapultierte ihn dann mitten in die gärenden studentischen Proteste.

© Fondation Louis Vuitton, Paris
An allen vorbeigezogen
Joseph Beuys hatte soeben seine Professur angetreten, eine junge Künstlergeneration lehnte alles Überkommende ab. Trotz seiner tiefen Sympathie für Ausnahmetalente wie Blinky Palermo muss Richter sich unter den Bilderstürmern wie ein Fremder vorgekommen sein. Man spürt es auf den monumentalen fotografischen Porträts, die aktuell auf jeder Etage der Fondation Louis Vuitton in Paris hängen. Die Ausstellung selbst, die den inzwischen 93-Jährigen mit einer grandiosen Soloschau feiert, vollzieht in 30 Räumen mühelos nach, wie Gerhard Richter in seiner Unbeirrbarkeit bald an allen vorbeizieht, um kometenhaft zum berühmtesten deutschen Maler seiner Zeit aufzusteigen.
Gerade hat es der jährlich erscheinende Kunstkompass nochmal bestätigt: Seit über zwei Dekaden belegt Richter den Spitzenplatz als Nummer eins, der wichtigste und entsprechend teuerste Künstler. Völlig zu Recht, wie die schlicht „Gerhard Richter“ betitelte Retrospektive anhand von über 270 Gemälden belegt. Eine Apotheose, ausgerichtet von zwei ebenfalls berühmten Kuratoren: Dass Nicholas Serota und Dieter Schwarz selbst lange Museen führten und international bestens vernetzt sind, sorgt für eine eindrucksvolle Verdichtung wichtiger Leihgaben aus aller Welt.

© Fondation Louis Vuitton, Paris
Richter als Romantiker
Ein tastendes, dabei selbstbewusstes Suchen anstelle reiner Behauptungen, Zweifel im Angesicht politischer Zäsuren wie dem Bombenabwurf über Dresden, den der Künstler als Kind erlebte, oder dem kollektiven Tod der ersten Generation von RAF-Terroristen in Stammheim. Letzteres beschäftigte den Maler über Jahre, bevor er anhand alter Pressefotos seine Ansicht zur Ausweglosigkeit von Fanatismus malte.
Wie sehr Richter immer wieder auf das eigene Leben und Empfinden fokussiert, war lange nicht klar. Dass die fotografische Vorlage für den Wehrmachtssoldaten „Onkel Rudi“ ebenso aus dem Familienalbum stammt wie „Tante Marianne“, die von den Nationalsozialisten ermordet wurde, hat der Künstler später selbst erzählt. Andere Beziehungen wie zu seiner ersten Frau Ema, die Vorbild für seinen Akt auf der Treppe war, Richters Tochter Betty oder die Kinder aus seiner bis heute dauernden Ehe zur Malerin Sabine Moritz erschließen sich innerhalb der Ausstellung.
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Ein Konservativer, das auch. Wer heute auf jene „48 Porträts“ blickt, mit denen Gerhard Richter 1972 den deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig bestückte, steht einigermaßen fassungslos vor 48 Männern, die Einfluss auf die Moderne genommen haben. Als sei Deutschland im frühen 20. Jahrhundert gänzlich ohne Künstlerinnen, Literatinnen und Wissenschaftlerinnen ausgekommen. Diese Ahnengalerie hält man bloß mit Blick auf Richter als Repräsentant einer Bundesrepublik aus, die offenbar genauso dachte. In seiner Kunst spiegelt sich eine ganze Ära, im Idealfall mit allen Facetten, die auch für die Gegenwart relevant sind.