Mit offenem Visier: Steffen Martus schreibt eine Geschichte der Gegenwart durch die Augen der Literatur
Mit Goethes „Wilhelm Meister“ sah Friedrich Schlegel den neuen Roman geboren: Im Gegensatz zu anderen Gattungsvertretern war hier eine Literatur zu lesen, die eine Abkehr von Heldengeschichten der Vergangenheit bedeutete. Aus dem Helden war ein Jedermann geworden, von dem in einer offenen, unabgeschlossenen Form erzählt wurde. Ein postheroischer Roman, bevor es das Wort gab.
Der Literaturwissenschaftler Steffen Martus hat sich in „Erzählte Welt“ auf seine eigenen Wanderjahre durch unsere Gegenwart begeben. Im Gepäck hat er seine Leitthese, die er entlang von Schlegels Text zum Wilhelm Meister entwickelt: Für offene Erzählformen braucht es offene Köpfe. Vorsicht ist da geboten, wo sich Sehnsüchte nach Heldengeschichten und geschlossenen Erzählungen bilden.
Vorgespult in die jüngste Gegenwart findet Martus eine komplizierte Gemengelage vor: Während sich die deutschsprachige Literatur für migrantische Stimmen und ihre Ästhetiken geöffnet hat, sieht Martus den rechten Vibe Shift nicht spurlos vorüberziehen. Martus fragt: „Was hatten die 2010er Jahren nur mit dem literarischen Feld angestellt?“
Kampf mit dem Mainstream
Wenn Literatur „Gesellschaft im Kleinen“ ist, dann erfuhr sie ab der Mitte der Zehnerjahre auch ihren Rechtsruck. Autoren wie Monika Maron oder Uwe Tellkamp sehen sich seit Jahren in einen Kampf mit dem Mainstream verwickelt und träumen von der abgeschlossenen Welt. Einleuchtend hält Martus Tellkamp entgegen: „Was aber wäre, wenn er die Kreativitätsprozesse politisch ernst nehmen würde, die die Arbeit an seinen Romanen offenbar bestimmen? Die Flexibilität und Gestaltbarkeit von Grenzen? Die Migrations- und Integrationsfähigkeit von Romanelementen? Die offene Zukunft seiner Schreibprojekte?“