Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (73)  : Umarmung hinter der Bühne

9.10.2022

So ungefähr wie meine Woche gerade stelle ich mir den Marathonlauf vor – ein Auftritt in Köln, drei in Berlin, danach morgen früh um sieben ein Flug nach London. Proben, spielen, auflegen, diskutieren, proben, spielen. Natürlich freue ich mich dabei riesig aufs Wiedersehen mit alten Freunden – toll, dass sie jetzt regelmäßig in Deutschland auftreten und dass ihre Veranstaltungen auf mehr Aufmerksamkeit stoßen als je zuvor – gleichzeitig aber ist mir bewusst, die Voraussetzungen für das Interesse des deutschen Publikums für die ukrainische Kultur sind die aktuellen brutalen Ereignisse in meiner Heimat.

In Köln zeigen wir mit Mariana Sadovska und Svetlana Kundish unser Projekt „Songs For Babyn Yar“. Die Vorstellung ist Teil des Programms vom Urbäng! Festival, ich komme ein Tag früher, um das Konzert von Linia Mannergeima mitzuerleben und Serhij Zhadan sowie beide seine Musikerkollegen nach einer langen Pause endlich wieder zu sehen. Im Dezember, als wir uns letztes Mal in Charkiw getroffen haben, hatte ich für 2022 einige Ukrainebesuche geplant, keiner davon fand statt.

Obwohl ich bei unzähligen Konzerten von Serhijs Band Zhadan & Sobaky war (und bei einigen davon sogar mitspielte), habe ich Linia Mannergeima bis jetzt noch nie live gesehen. Mein Zug aus Berlin hat Verspätung, ich verpasse die Festivaleröffnung, bei der Zhadan mit Navid Kermani diskutiert, und entscheide mich, vom Bahnhof nicht zum Hotel, sondern direkt zum Orangerie Theater zu fahren.

Die Musiker finde ich im Backstage-Raum, wir umarmen uns, eine ganz normale Szene vorm Konzert, wie wir sie gewohnt sind – es wird viel gelacht, der Wein wird großzügig ausgeschenkt – und doch ist noch eine neue, unsichtbare Dimension dabei. Jedes Mal, wenn ich darüber denke, was diese drei in den letzten Monaten durchgemacht haben, habe ich einen
Kloß im Hals.

Auf der Bühne war Zhadan schon immer ein Rockstar, inzwischen wirkt er aber wie ein Halbgott – als er das Publikum vor dem ersten Song zum Aufstehen animiert, dauert es nicht mal zehn Sekunden, bis alle Zuschauer ihre Sitze verlassen und vor der Bühne stehen.

Texte, so wichtig wie die Musik

Da die Songtexte bei der Band genauso wichtig wie die Musik sind, haben die Veranstalter für Untertitel gesorgt, die auf die Leinwand projiziert werden – für diejenigen, die kein Ukrainisch verstehen. Obwohl ich viele Lieder schon mehrmals gehört habe, lese ich deutsche Übersetzungen mit, sie sind richtig gut.

Linia Mannergeima war in den letzten zwei Jahren inaktiv und ich glaube, zu verstehen, was Serhij meint, als er behauptet, es fühlt
sich heute anders an, diese Texte zu singen – sie bekommen plötzlich neue Bedeutungen, an die ihr Autor beim Schreiben nicht unbedingt gedacht hat. Und wenn man Zhadan auf der Bühne beobachtet, merkt man, wie bei manchen Zeilen er selbst überrascht wirkt.

Die Sonne geht auf – über die gesprengten Brücken / Unsere Städte tragen wir stets auf unseren Rücken

…und so ist das auch – es fällt mir schwer, zu glauben, dass wir in Köln sind, es könnte genauso gut eine Stadt in der Ukraine sein. Im Publikum sehe ich viele bekannte Gesichter – Anastasiia Kosodii ist da, mit ihr haben wir in den letzten Jahren einige Projekte in Berlin, München, Kyiv und ihrer Heimatstadt Zaporizhzhya gemacht, die Sängerinnen vom Dyvyna Chor, mit denen wir im Juli zusammen auf der Bühne des Rudolstadt Weltmusikfestivals standen und auch Galia Pechenizhska.

Eine Sängerin mit einer unglaublich starken Stimme aus dem Freundeskreis von Zhadan & Sobaky, die ich letztes Jahr in Charkiw kennengelernt habe – Galia leitete ein Kinderchor, das wir für das Album Fokstroty engagierten. Mein Facebook schickt mir oft Erinnerungen an die Aufnahmesession mit diesen fünf fröhlichen Mädels.

Fotos von einem sonnigen Sommertag im Studio, das inzwischen zerbombt wurde. Bis auf Serhij ist keiner, den man auf diesen Bildern sehen kann, in Charkiw geblieben. Ob ihre Häuser noch da sind, wenn sie zurückkehren, kann man nicht wissen. Nach wie vor beschießt russland meine Heimat täglich mit Bomben und Raketen.

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