Wenn Worte zu Lunten werden
Wir Journalisten schimpfen selten über unsere Quellen, da wir sie brauchen. Informanten und Informantinnen klären uns über etwas auf, das wir nicht wissen und bisweilen nicht wissen sollen. Ohne die eine entscheidende Quelle hätten wir im „Spiegel“ am 12. September 2001 und in den Wochen danach nicht recherchieren können, wer Mohammed Atta und die übrigen 18 Attentäter gewesen waren; und dass einige von ihnen an der TU Harburg studiert und in der Marienstraße 54 gelebt hatten.
Bargeld in Plastiktüten
Ich erinnere mich, es war 1994, an jenen aufrechten Menschen, der es nicht ertrug, dass der damalige Finanzminister Baden-Württembergs, Gerhard Mayer-Vorfelder, Steffi Graf und deren Vater Peter mit Steuerhinterziehung davonkommen lassen wollte, weil Steffi so strahlend berühmt war. Der Kollege (und Lehrmeister) Hans Leyendecker und ich hatten zwar diverse Geschichten beisammen, in denen es um erstaunliche Verträge und viele Haufen Bargeld in Plastiktüten ging, aber der eine Mensch, der all das zusammenführte, hatte uns gefehlt, bis er uns nicht mehr fehlte, weil er glaubte, dass Deutschland ein Rechtsstaat bleiben solle.
Drüben in Amerika haben die Helden und Heldinnen der Transparenz ihr Vorbild: Deep Throat, 30 Jahre später als Mark Felt enttarnt und 1972 der Informant der Watergate-Enthüller Carl Bernstein und Bob Woodward, sagte den Satz „Follow the money“, da er nicht wollte, dass ein krimineller Präsident das Land regierte. Frances Haugen wiederum, berühmteste Whistleblowerin der Gegenwart, hielt Facebook für gefährlich; Enthüllungen können reinigen, wir sollten Frances Haugen dankbar sein. Ohne Indiskretionen gäbe es keinen Journalismus, doch ohne niedere Motive, so ist das Leben, sind Quellen nicht immer zu haben. Rache, Ehrgeiz, Intrige sind kein seltener Antrieb; die Freude an Explosionen scheint nun hinzuzukommen.
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Joe Biden telefoniert in diesen Tagen viel und ordnet „Klappe halten“ an, doch es wirkt nicht: Auch dies wird sofort ausgeplaudert. Amerikas Geheimdienstler und diverse Menschen im Pentagon sind halt so schrecklich stolz: Ihre Daten und Analysen haben der ukrainischen Armee dabei geholfen, russische Generäle aufzuspüren und zu töten. Und auch bei der Ortung des 186 Meter langen Lenkwaffenkreuzers „Moskva“ halfen die USA; zwei ukrainische Treffer versenkten Putins Stolz.
[Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer]
Warum reden sie in Washington morgens auf den Bürofluren darüber? Und beim Mittagessen in Georgetown auch und dann noch mal beim Bier, natürlich unbedingt vertraulich und wirklich nur ganz, ganz kurz? Können in einem Krieg, in dem der Aggressor nicht gekränkt werden soll und in dem die NATO nicht Partei werden will, weil dann der Dritte Weltkrieg kommen könnte, nicht auch Worte zu Lunten werden?
Es sind volatile, zugleich schnatternde Zeiten. Ich wünsche mir Informanten, die nachdenken; und die manchmal, wenn es womöglich besser für die Menschheit ist, lieber schweigen.
Indiskretion im Supreme Court
Eine zweite Indiskretion erschüttert Amerika. Im Supreme Court, dem höchsten Gericht der USA, wird eine Entscheidung vorbereitet, mit der das Abtreibungsrecht revidiert und gegen Frauen gewendet werden soll, mit der Begründung, dass die Verfassung, 1788 ratifiziert und von Männern verfasst, Abtreibung nicht ausdrücklich gestatte.
Der Entwurf dieser Mehrheitsmeinung wurde durchgestochen, seither brennen die USA wieder oder noch ein bisschen mehr. Destruktiv? Vermutlich ja; vielleicht auch nicht. Vielleicht sollte diese Indiskretion ja belegen, in welchem Zustand die Institutionen der amerikanischen Demokratie sind, und das wäre gelungen.