„Warum sollte ich ein braver Deutscher sein wollen?“
Auf dem Leopoldplatz haben sich Hunderte Menschen versammelt. Windböen rauschen durch die Menge, das Orkantief „Zeynep“ hat den Bahnverkehr lahmgelegt. Auf der Bühne steht ein 23-Jähriger und rappt: „Sie sehn Einzeltäter oder Psychos mit nem Colt / Ich seh nur, wie es leibt und lebt, euer schönes Schwarz-Rot-Gold.“ Es ist der 19. Februar, zwei Jahre nach dem rassistisch motivierten Terroranschlag in Hanau. Die Menschen treffen sich, um an die Namen der ermordeten Opfer zu erinnern und miteinander zu trauern. Sie erinnern daran, dass die Sicherheitsbehörden nicht alle Menschen gleich schützen, dass Rassismus in diesem Land Alltag für Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ ist.
„Der Anschlag war für viele junge, migrantische Menschen ein Einschnitt: Okay krass, wir chillen auch in Shisha-Cafés, wir sehen genauso aus wie die Leute, die ermordet wurden. Das hätten genauso gut wir sein können“, erzählt der Rapper, der sich Apsilon nennt und mit bürgerlichem Namen Arda heißt. Apsilons türkische Großeltern kamen in den siebziger Jahren im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland. Sie und viele andere schufteten für den deutschen Wirtschaftsaufschwung – „jeden Monat bis zur Ohnmacht für den Tagelohn ja“, wie Apsilon singt.
In kurzer Zeit von Null auf Hundert
Anfang des Jahres veröffentlichte er seine erste EP „Gast“, bei der Kundgebung am Leopoldplatz hatte er seinen Debütaufritt. Der Titel der Platte ist Programm: Apsilon singt über die rassistische Kontinuität, die sich bis in die Gegenwart zieht. „Meine Großeltern sind Personen, die das alles erlebt haben und immer noch erleben“, sagt er. In seinen Songs erzählt er ihre und die Geschichten seiner „Homies“ aus Moabit.
Hanau war für ihn ein Einschnitt, aber „kein Schock“: „Es regt mich auf, wenn Politiker:innen überrascht tun bei sowas“, sagt er. „Ich habe krasse Wut auf den deutschen Staat, auf das System, in dem wir leben.“ Worte wählt er trotz der provokanten Attitüde mit Bedacht, in seinen Songs bricht er mit sprachlichen Konventionen, mischt Türkisch und Deutsch. Der Sound ist trappig – ein Subgenre des Hip Hop, das sich durch tiefe Bassdrums und rhythmische Hi-Hats auszeichnet. Mit diesem Style schoss Apsilon in kurzer Zeit von Null auf Hundert: Zehntausende Klicks auf Spotify und ein Plattenvertrag beim Major-Label „Sony“.
Apsilon studiert Medizin an der Charité
Anfang März, betritt Apsilon ein Café in Moabit unweit der S-Bahn-Haltestelle Bellevue. Den Treffpunkt hat er ausgesucht, er ist öfter hier. Apsilon ist ein großgewachsener Typ, er spricht langsam, besonders dann, wenn er nachdenkt. Moabit ist seine Heimat: „Wenn ich in Schöneberg aufgewachsen wär, würde ich auch über Schöneberg schreiben“, erzählt er und schwärmt dann doch: von der Spree, der guten Gastro und der Turmstraße. Apsilon ging auf die Anne-Frank-Grundschule, keine „Brennpunktschule“, wie er sagt, aber viele seiner Mitschüler:innen waren ebenfalls migrantisch. „Man war nicht der einzige Schwarzkopf unter Deutschen.“
Apsilon studiert heute Medizin an der Charité, ihm fehlen noch Staatsexamen und das Praktische Jahr. Das Abitur machte er mit 1,2. Arzt wollte er immer schon werden, am liebsten Hausarzt. Als Kind habe er viel gelesen, Kinderbücher, Harry Potter und Fantasy. Irgendwann wollte er sich „mit Sprache selber ausdrücken und nicht nur konsumieren“. In der Schule schrieb er Gedichte und Geschichten, bekam dafür gutes Feedback. Zuhause hörte er türkische Musik, las gerne Gedichte. Nâzim Hikmet, ein türkischer, sozialistischer Dichter des 20. Jahrhunderts, habe ihn in den letzten Jahren stark inspiriert. Früher sei er eher schüchtern gewesen. Auf der Bühne aber muss er laut sein: „Und ich habe gemerkt, damit habe ich auch kein Problem.“
Politik, ohne moralischen Zeigefinger
Seit zehn Jahren schreibt Apsilon schon Texte, seit etwas mehr als einem Jahr ist er auch im Studio. Die Entwicklung vom dichtenden Schüler zum rappenden Medizinstudenten sei „kein flüssiger Prozess“ gewesen, sagt er. In der Oberstufe schrieb er kurzzeitig gar nicht.
Einen entscheidenden Wendepunkt in seiner Karriere stieß ein Cousin an. Der war Uber-Fahrer und transportierte eines Tages einen Fahrgast, der auch Hip-Hop-Produzent war. Ihm zeigte er Demo-Songs von Apsilon. Der Produzent, Jan van der Toorn, nahm daraufhin Kontakt zu Apsilon auf. Anschließend nahmen sie zusammen „Köfte“ auf, den ersten Song auf der EP.
Der Sound der EP ist abwechslungsreich, mal langsam, mal mit schnellen Hi-Hats. Der Track „Kes“ besticht durch wuchtige 808- Bässe. Die Texte lesen sich wie Fragmente politischer Theorie, aber ohne moralischen Zeigefinger. Apsilon verknüpft Kapitalismusanalyse mit Rassismuskritik, fragt nach Identität und Integration. In den nächsten Monaten sollen weitere Singles folgen. Am 15. April erscheint ein Song, in dem er wieder über seine Wut auf die rassistischen Strukturen in Deutschland rappt. Kunst und Aktivismus, geht das für ihn nur zusammen?
Er will kein braver Deutscher sein
„Ich will auch Musik machen, die nicht gesellschaftskritisch ist, auch Lieder über schöne Sachen. Kunst ist self expression, und zu meinem Charakter gehört das Politische dazu.“ Zweckgebundene Kunst wolle er nicht produzieren. Dennoch: Linker Aktivismus ist ein wichtiger Teil seines Lebens. Vor dem Brandenburger Tor hielt er 2019 auf dem globalen Klimastreik eine Rede. Im Studium fing er an, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Frantz Fanon und Autoren der Frankfurter Schule zu lesen. Dass Unterdrückung, Herrschaft und gesellschaftliche Widersprüche zusammenhängen, wurde ihm spätestens da klar.
Der deutschen Dominanzkultur will er sich nicht unterwerfen: „In der Schule hatte ich selber manchmal die Erwartung, dass ich mich anpassen muss, um dazuzugehören“, erzählt er, noch langsamer als sonst. Heute pfeift er auf ein Integrationsverständnis, das Menschen nur anhand ihrer Nützlichkeit beurteilt: „Ich trinke Çay und esse Köfte“, singt er stattdessen und sagt: „Ein braver Deutscher zu sein, ist halt: Mitmachen, Fresse halten. Das kann nicht das Ziel sein. Aber es ist das ganze Ziel der Integrationspolitik in Deutschland. Warum sollte ich so sein wollen?“