So stehen die Aussichten für die Nationalmannschaft
Matthias Ginter ist dieser Tage gefragt worden, was er eigentlich davon halte, dass die Fußball-Europameisterschaft für ihn und die deutsche Nationalmannschaft erst so spät beginne. Bereits an diesem Freitag stehen sich im Eröffnungsspiel der EM in Rom Italien und die Türkei gegenüber; die Deutschen aber sind – gemeinsam mit ihrem Auftaktgegner Frankreich natürlich – das letzte Team, das bei diesem paneuropäischen Turnier ins Geschehen eingreift. Bis Dienstag müssen sie noch auf ihren ersten Einsatz warten.
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Die Frage an Ginter, den Innenverteidiger der Nationalmannschaft, war eine typische Journalistenfrage. Könnte man zumindest meinen. Spieler machen sich solche Gedanken wahrscheinlich eher selten. Es geht los, wenn es los geht. Aber offenbar ist das gar nicht so. „Es ist ein bisschen schwierig, die Vorfreude aufrecht zu erhalten“, antwortete Ginter. „Denn natürlich will man so schnell wie möglich ins Turnier starten.“
Wobei: Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Deutschen und ihr Trainer Joachim Löw noch ein paar Tage Zeit haben, bis es für sie losgeht. Besonders lang war die Vorbereitung auf die EM nicht. Dazu sind wichtige Spieler wie der an Covid-19 erkrankte Toni Kroos oder die Champions-League-Finalisten um Ilkay Gündogan und Antonio Rüdiger erst verspätet ins Training eingestiegen.
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Und ein paar inhaltliche Themen gibt es schließlich auch noch zu beackern. „Wir sind einen Schritt vorangekommen“, hat Bundestrainer Löw zum Abschluss des Trainingslagers in Seefeld über die Lernfortschritte seines Teams gesagt. „Das war das Einmaleins.“ Die komplizierteren Rechnungen aber, das gesamte Offensivspiel zum Beispiel, standen bisher noch gar nicht auf dem Stundenplan.
Verlässliche Prognosen über die Stärke der deutschen Nationalmannschaft, über ihre Aussichten, zum vierten Mal nach 1972, 1980 und 1996 den EM-Titel zu gewinnen, sind daher schwer zu treffen. Verlässlich ist nur, dass im Volk eine gewisse Skepsis vorherrscht. Selbst Löw hat bei der Nominierung seines Kaders gesagt, „dass wir bei diesem Turnier nicht zu den absoluten Favoriten zählen“. Favoriten sind Frankreich, Belgien, vielleicht noch England und Spanien.
Zweifel haben die Nationalmannschaft schon häufiger zu großen Turnieren begleitet. Besonders groß waren sie vor den Weltmeisterschaften 2002 und 2006. Am Ende wurde es Platz zwei und Platz drei. Aber völlig aus der Luft gegriffen ist die Skepsis nicht. Die vergangenen Monate wirken noch nach: das deprimierende 0:6 gegen Spanien im vergangenen November zum Beispiel. Oder auch das blamable 1:2 gegen Nordmazedonien, ein Land, von dem manche Fußballfans vermutlich nicht einmal wussten, dass es überhaupt existiert.
„Wir sind nicht so schlecht, wie wir scheinen“, sagt Lothar Matthäus, Deutschlands Rekordnationalspieler und omnipräsenter Experte auf vielen Kanälen bei einer Medienrunde seines Partners Interwetten. „Wir haben nur schlecht performt.“ Matthäus hat zum Spaß einmal die Vorrundenspiele der deutschen Mannschaft durchgespielt – in der mutmaßlich stärksten aller sechs Vierergruppen. Löw und sein Team bekommen es zunächst mit Weltmeister Frankreich (15. Juni) zu tun, danach mit Titelverteidiger Portugal (19. Juni) und zum Abschluss mit Ungarn (24. Juni). Erst mal langsam reinkommen und dann weiterschauen, das ist diesmal eher nicht die passende Herangehensweise an das Turnier.
Auf die Stimmung kommt es an, „und die Stimmung ist gut”
Wenn Matthäus richtig getippt hat, landen die Deutschen in ihrer Gruppe hinter Frankreich und Portugal, kommen als einer der vier besten Gruppendritten trotzdem eine Runde weiter. Ja, er findet, dass die Mannschaft mit ihrer Qualität „eigentlich ins Halbfinale kommen müsste“. Natürlich könne man sagen: Boah, so eine starke Gruppe. Aber genauso müssten dann auch Franzosen und Portugiesen denken. „Wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind“, sagt Matthäus. Löw habe einen Kader zur Verfügung, „der gut ist, der bereit ist, der auch Qualität hat“. Auf die Stimmung im Team komme es jetzt an, „und die Stimmung ist gut“.
Das sagen die Nationalspieler zumindest bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Kein Vergleich zu 2018, als die Deutschen als Titelverteidiger zur WM nach Russland aufbrachen und schon nach der Vorrunde geschlagen in die Heimat zurückkehrten. „2018 war die Stimmung schon auch belastet, da lag eine gewisse Schwere auf der Mannschaft“, sagt Löw. Die Erdogan-Affäre beschäftigte die Mannschaft mehr, als sie es zugab – neben all den sportlichen Problemen und den innerbetrieblichen Reibungen zwischen Etablierten und Herausforderern, die der Bundestrainer nicht wegmoderiert bekam.
Jetzt ist das Grundgefühl ein anderes. „Die Stimmung ist extrem energetisch. Die Jungs verstehen sich“, sagt Löw. „Es ist auch sehr kommunikativ.“ Er selbst ist das auch: klar in seinen Ideen; klar in seiner Ansprache, fokussiert auf das Ziel, seine 15-jährige Amtszeit mit einem zweiten großen Titel abzuschließen. Für Löw geht es bei diesem Turnier schließlich auch um sein Bild in der Geschichte, selbst wenn er vermutlich immer bestreiten würde, dass ihm das in irgendeiner Weise wichtig ist.
„Die Mannschaft hat Zug nach vorne, die Mannschaft hat wieder Freude“, findet Lothar Matthäus. Am Montag, im letzten Testspiel vor der Europameisterschaft, war das durchaus zu erkennen. Die Deutschen kombinierten flüssig und schlüssig, sie erspielten sich viele Chancen und schossen sieben Tore. Aber der Gegner war eben nur Lettland, in der Weltrangliste auf Rang 138 geführt, zwischen Tansania und Myanmar. Um ein Versehen handelte es sich bei der Platzierung ganz offensichtlich nicht.
Unabhängig von der Stärke respektive Schwäche des Gegners: „Wenn die Dinge funktionieren, gibt das ein gutes Gefühl“, sagte Bundestrainer Löw nach dem 7:1 gegen die Letten. „Es sollte uns aber nicht dazu bewegen zu glauben: Jetzt ist alles getan. Die Arbeit fängt erst an.“ Ein paar Tage bleiben ihm ja noch.