Schule Nummer 17 ist komplett zerstört

1990 wechselte Sasha die Schule. Die alte fand er blöd und von der neuen hat er gehört, dass es dort Fachklassen gebe und man nach dem Abschluss ohne weiteren Prüfungen an die Uni gehen könne.

Wir lernten uns auf dem Schulhof kennen, wobei man ihn eigentlich Lyzeumshof nennen sollte, denn unsere Schule verwandelte sich über den Sommer in ein Lyzeum (keine Ahnung, was man in der Ukraine der 1990er darunter verstand, in Charkiw gab es noch keine anderen Lyzeen, aber es klang auf jeden Fall stabil).

Jeden Sonntag diskutierten wir im Palast der Jungen Pioniere über Poesie

Zu der Zeit gab es für mich keine wichtigere Frage, als wer welche Musik mochte. Sasha feierte die gleichen Bands wie ich, also waren die Chancen hoch, dass wir Freunde werden. Leider spielte er kein Instrument, sonst hätte ich ihn eingeladen, bei meiner Band mitzumachen. Ich war nämlich vom Gedanken besessen, eine Band zu gründen – im Sommer fing ich an, Punk-Lieder zu schreiben.

Mit Punk war es ähnlich wie mit dem Lyzeum, ich mochte das Wort, wusste jedoch nicht genau, was es heißt, hatte aber einen inspirierenden Zeitungsartikel über die englischen Punks gelesen und beschloss, auch ein Punk zu werden.

Songs zu schreiben sollte doch nicht so schwierig sein, dachte ich – die vier Akkorde auf der Gitarre, die ich kannte, reichten vollkommen aus. Was die Liedtexte betraf, hatte ich schon gewisse Erfahrung, da ich jahrelang Gedichte schrieb und das Literaturstudio im Palast der Jungen Pioniere besuchte. Jeden Sonntag diskutierten wir dort über Poesie.

Heute frage ich mich, warum man uns damals nichts über ukrainische Dichter erzählte, dafür aber oft und lang über russische. Mit 14 fand ich Sergei Jessenin cool, den „Live Fast Die Young“-Lyriker der frühen sowjetischen Zeit, ein Dorfjunge, der zu einem der bekanntesten Autoren des Landes aufstieg und sich mit 30 das Leben nahm.

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Vor wenigen Tagen weckte mich eine Audionachricht von Sasha, der seit Jahrzehnten in New York lebt. Er erzählte, dass seine alte Schule in Charkiw von russischen Raketen komplett zerstört wurde – samt dem Sergei Jessenin-Museum. Was?! Entweder habe ich mich verhört oder Sasha war angetrunken, in New York war es später Abend, es hätte sein können …

Ich googelte „Charkiw, Schule Nr. 17“ und sah die schrecklichen Bilder eines vollständig ruinierten Schulgebäudes. Und ja, tatsächlich, in der Schule gab es ein Jessenin Museum, das einzige in der ganzen Ukraine! Die Suche führte mich zur Webseite esenin.ru. „Nicht nur ist Charkiw nach seiner Mentalität eine russische Stadt, es ist auch eine Stadt, die Jessenin persönlich 1922 besucht hat, hier hat er getrunken, getanzt und seine wunderbaren Gedichte geschrieben“.

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Ich muss heute an die Schule Nr. 17 denken, als mich ein Moderator eines großen deutschen Rundfunksenders anruft. In der Ukraine will man russische Musik und Literatur verbieten, behauptet er mit freundlicher Stimme – und möchte meinen Kommentar dazu hören.

Ich zögere kurz, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich frage, warum ein deutscher Rundfunksender sich ausgerechnet für diese Nachricht interessiert? Und wie oft man in den letzten vier Monaten von vernichteten Lehranstalten der Ukraine berichtet habe?

Allein im Donbass sind es 200 Schulen, habe ich neulich gelesen. Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen werden von der russischen Armee denazifiziert, wobei „Denazifizierung“ ein Synonym für „totale Vernichtung“ ist. Ich frage, ob der Sender seinen Hörern bereits von den Bigboards mit den Puschkin-Zitaten erzählt hat, die neulich in der okkupierten Stadt Cherson aufgestellt wurden.

Ich werde immer wütender und weiß, es kommt nicht gut rüber, man bekommt sicherlich meine Nervosität mit. In diesem Moment möchte der Moderator das unangenehme Thema wechseln und fragt mich nach den neuesten Beispielen der Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Musiker.

Als ich sagen will, ich habe das Gefühl, dass die russischen und ukrainischen Musiker, die ich kenne, die gemeinsame Sprache verlernt haben, meint der Moderator, unsere Zeit wäre um und bedankt sich für das spannende Gespräch.

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