Punk mit Knopfakkordeon

24. August 2022

Heute feiert die Ukraine zum 31. Mal ihre Unabhängigkeit. Mein Facebook hat dokumentiert, was ich am Jahrestag vor 7 Jahren getrieben habe – ich nahm an einem Flashmob am Brandenburger Tor teil und las neben anderen aus den Texten ukrainischer Autoren. Ein Jahr später spielte ich mit Zhadan und Sobaki eins der verrücktesten Konzerte meines Lebens in Mariupol.

1991 gab’s noch kein Facebook, und obwohl ich schon 16 war, kann ich mich ärgerlicherweise nicht an diesen Augusttag erinnern. Ich kenne noch den Namen meiner damaligen Band, weiß, mit wem ich ausging und welche Gitarre ich hatte, aber wie haben sich die ersten Stunden der Unabhängigkeit angefühlt?

Ich beschließe, meine Mutter nach ihren Erinnerungen zu fragen, zuerst aber auf jeden Fall beim Frühstück Selenskyjs Ansprache anzuschauen – und stelle fest, dass der Kaffee alle ist. Verdammt! Ab geht’s nach Alnatura, aber kaum bin ich aus dem Haus, ruft meine Mutter an. Ich bleibe an der Ecke stehen und nutze die Gelegenheit, sie zu befragen.

„Naja, auf jeden Fall habe ich damals am Referendum teilgenommen und für die Unabhängigkeit abgestimmt, warum auch nicht, mal was anderes probieren, zur Abwechslung! Aber sonst… es war eine verrückte Zeit, weißt du, und ich musste schuften, die Großeltern waren ja krank und wurden immer älter, dem Papa im Institut haben sie monatelang keinen Lohn gezahlt, ich war die Einzige, die die Familie nicht verhungern ließ!“

Ich höre zu und beobachte dabei das Leben auf der Schönhauser Allee.

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Auf der Bank beim Fahrradweg sitzt ein müder Trinker, der eine Flasche aus dem Jutebeutel auspackt… und ich staune, da ich sofort die Form dieser Flasche erkenne. Das ist Khortytsa, der ukrainische Wodka, wahrscheinlich aus dem Laden um die Ecke. Die Berliner Säufer entdecken für sich also die Getränke aus meiner Heimat, das macht mich irgendwie stolz. Eine junge Frau im Ramones-T-Shirt läuft mir entgegen, sie telefoniert auch – als sie näher kommt, höre ich, sie spricht Ukrainisch.

Die Musik, die mich als Teenager interessierte, war meist offiziell verboten

Als Musikfan kann ich genau sagen, wann und was sich für mich in den frühen Neunzigerjahren verändert hat. Bei den ersten Konzerten, die ich Ende der Achtziger besucht habe, sangen alle Bands auf Russisch, das schien selbstverständlich. Die Musik, die mich als Teenager interessierte, wurde nicht im Radio gespielt und war meistens offiziell verboten, weil die Liedtexte oft sozialkritisch waren. Genau darin lag ihre Attraktivität, es ging mehr um die Inhalte als um den coolen Sound, vielleicht weil der Sound einfach nicht cool sein konnte. Aufgenommen in heimlichen Studios, klangen die Alben der Idole meiner Jugend grottenschlecht. Egal ob sie Heavy Metal oder psychedelischen Rock spielten, das Ergebnis erinnerte im besten Fall vage an die westlichen Musiker, bloß gesungen wurde auf Russisch.

Seit der Krim-Okkupation habe ich russische Musik aus meinen DJ-Sets ausgeschlossen

Und dann schwärmten plötzlich immer mehr Musikfreaks von einem jungen Quartett aus Kiew namens VV. Meine Freunde und ich waren am Anfang sehr skeptisch – Punk mit Knopfakkordeon, dazu noch auf Ukrainisch, wie sollte das denn gehen? Aber kaum dass wir ihre Musik hörten, waren wir schon von den ersten Tönen mitgerissen.

Ukrainisch klang dabei ganz natürlich und viel aufregender als alles, was wir in der Schule im Fach „Ukrainische Literatur“ lesen durften. Auch das erste Album von Braty Gadyukiny aus Lwiw war für uns wie eine Bombe. Sie sangen von den Junkies, die in der Nacht die Mohnblumen schneiden, und von den Waffen, die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in den westukrainischen Wäldern bei ihrem Rückzug versteckten.

Während russische Rocker mit ihrer Musik meistens stocksauer und todernst, oft auch pathetisch wirkten, kamen ihre ukrainischen Kollegen wesentlich entspannter und humorvoller rüber. Dieser Unterschied wurde mit der Zeit noch deutlicher und fiel mir immer öfter auf, als ich in Berlin anfing, osteuropäische Musik aufzulegen. Nach der Okkupation der Krim 2014 und dem Beginn des Kriegs russlands in der Ukraine habe ich russische Musik aus meinen DJ-Sets komplett ausgeschlossen.